Kiew. Der Personalmangel setzt der Armee zu, Kiew vertraut auf patriotische Appelle – doch private Agenturen wie „Lobby X“ gehen neue Wege.

Am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wehen Tausende blau-gelbe Fähnchen. Sie erinnern an die Opfer der russischen Invasion. Das Fahnenmeer wächst. Nahezu täglich sterben Zivilisten bei Luftangriffen auf ukrainische Städte und Dörfer. Jeden Tag sterben Soldaten an den Fronten im Osten und Süden.

Die ukrainischen Streitkräfte bluten aus. Der Mangel an neuen Rekruten ist derzeit eines der größten Probleme des Militärs. „Das ist eine existenzielle Herausforderung. Wenn wir frei bleiben wollen, dann müssen wir uns verteidigen“, sagt Vladislav Grezev. Er sitzt in einem schlichten Großraumbüro, von dem aus man auf den Maidan schauen kann. Mit seiner Jobvermittlungsagentur „Lobby X“ rekrutiert Grezev neue Soldaten.

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Der zweite Kriegswinter ist in der Ukraine vorbei. Die russischen Streitkräfte drücken an allen Frontabschnitten. Von dem euphorischen und wütenden Widerstandsgeist der ersten Kriegsmonate ist nicht mehr viel zu spüren. Viele derjenigen, die sich am Anfang des russischen Überfalls freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet haben, sind tot oder so schwer verwundet, dass sie nicht mehr eingesetzt werden können.

Ukraine fehlen Soldaten: „Menschen sind keine Roboter“

Wer noch immer an der Front ist, ist müde. „Es sollte berücksichtigt werden, dass Menschen keine Roboter sind. Sie sind körperlich und psychisch erschöpft“, sagt der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Syrskyj in einem Interview mit der Plattform „Ukrinform“. Die Frage, wie neue Soldaten rekrutiert werden können, zerreißt die ukrainische Gesellschaft.

Vladislav Grezev selber ist aus dem Dienst ausgeschieden: „Ich bin jetzt an einem Platz, wo ich mehr für mein Land erreichen kann.“
Vladislav Grezev selber ist aus dem Dienst ausgeschieden: „Ich bin jetzt an einem Platz, wo ich mehr für mein Land erreichen kann.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Vor einigen Wochen hat Präsident Selenskyj das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Theoretisch könnten somit bis zu 400.000 neue Rekruten gewonnen werden. Aber kann man Menschen dazu zwingen zu kämpfen, wenn sie es nicht wollen? Das Militär appelliert an den Patriotismus: Jeder Mann im wehrfähigen Alter solle erkennen, „dass das Überleben der Ukraine von seinem Willen und seinem Handeln abhängt“, mahnt Oberbefehlshaber Syrskyj.

Die Regierung versucht, den Dienst attraktiver zu gestalten, indem sie feste Leitplanken einziehen will. Eine feste Dienstzeit von maximal 36 Monaten, ein Jahresurlaub von 15 Tagen, eine obligatorische Ausbildung von bis zu drei Monaten. Andererseits sollen die Strafen für Dienstverweigerer verschärft werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird derzeit im Parlament debattiert.

Grezev: „Leuten mehr Kontrolle über ihre Zukunft zu geben“

Die Arbeitsvermittler von „Lobby X“ gehen andere Wege. „Wenn man in der Armee dient, gibt man seine persönliche Freiheit auf. Wir versuchen, den Leuten mehr Kontrolle über ihre Zukunft zu geben“, sagt Vladislav Grezev. Diejenigen, die sich an seine Jobagentur wenden, können in Interviews angeben, in welcher Brigade und unter welchem Kommandeur sie dienen wollen und wo sie eingesetzt werden möchten – ob sie beispielsweise in der Infanterie und damit an der Front kämpfen wollen, oder als Drohnenpiloten, in der Logistik oder in anderen Bereichen arbeiten möchten.

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Grezev glaubt: Das macht es den potenziellen Rekruten leichter, sich zu verpflichten. Oft sei es nicht die Angst vor Verletzung oder Tod, die die Menschen vom Dienst an der Waffe abhalte, sondern die Ungewissheit, wohin es sie verschlägt. „Die Leute sollten wissen, wem sie ihr Leben anvertrauen.“

Die verschiedenen Brigaden haben eine unterschiedliche Reputation. Manchen Kommandeuren eilt der Ruf voraus, im alten Sowjetdenken verhaftet zu sein und wenig auf das Leben ihrer Untergebenen zu geben. Das sind Offiziere, die abgesetzt werden sollten, sagt Grezev. „Wir brauchen Kommandeure, die die Würde ihrer Leute respektieren, sie schützen, Haltung zeigen und professionell sind.“ Der Feind, sagt Grezev, habe mehr Munition, mehr Waffen, mehr Soldaten. „Der einzige Weg für uns, diesen Krieg zu gewinnen, ist, die Armee zu modernisieren und grundlegend zu reformieren.“

Rekrutierung in Ukraine: Botschaft ist simpel – Gut gegen Böse

Seine Firma sei mit ihrem Ansatz erfolgreich, betont Grezev. „Lobby X“ habe schon Tausende Freiwillige an das Militär vermittelt, und aktuell stiegen die Zahlen. Ein Grund für den Dienst an der Front könnte auch der lukrative Verdienst sein: Wer in Kampfpositionen eingesetzt wird, erhält monatlich umgerechnet rund 2800 Euro, das ist das Neunfache des durchschnittlichen Monatseinkommens in der Ukraine.

Die Botschaft auf den Rekrutierungsplakaten ist einfach: Gut gegen Böse.
Die Botschaft auf den Rekrutierungsplakaten ist einfach: Gut gegen Böse. © FUNKE Foto Services | Jan Jessen

Er selbst verdiene nichts mit der Vermittlung, betont der junge Mann, der sich im Frühjahr 2022 freiwillig gemeldet hatte, aber aus dem Dienst ausgeschieden ist. „Ich bin jetzt an einem Platz, wo ich mehr für mein Land erreichen kann.“

Einige der Brigaden sind seit Monaten selbst in die Rekrutierungsoffensive gegangen. Auf großen Werbetafeln, die vielerorts die Straßen im Land säumen, werben sie um neue Soldaten. Die Kampagne der dritten Sturmbrigade sticht besonders hervor. Ein Motiv: Ein junger Soldat steht mit dem Gewehr im Anschlag ruhig und entschlossen vor einem Zombie, der ihn anschreit, dahinter tauchen aus dem Schatten noch mehr dieser Schreckensgestalten auf.

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Simpler kann eine Botschaft nicht sein. Gut gegen Böse. Wir sind die Kämpfer des Lichts gegen die Armee der Dunkelheit. Die Brigade, die auch in den sozialen Medien omnipräsent ist und Hochglanzvideos publiziert, scheint Erfolg zu haben, sagt Grezev. „Die haben genügend Personal, um Soldaten nach einigen Tagen an der Front auszutauschen, damit sie sich erholen können.“

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