Berlin/Leipzig. Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ wollen ins Europaparlament. Spitzenkandidatin Lina Johnsen erklärt, was sie dort planen.

Lina Johnsen von der „Letzten Generation“ erinnert sich gut an den Tag, der so etwas wie ihr persönlicher Kipppunkt war. Sie besuchte eine Ausstellung über grünen Kapitalismus, es ging um Wirtschaftswachstum, um Nachhaltigkeit, um Ausbeutung und darum, dass die nicht besser ist, wenn in Ländern des globalen Südens statt fossiler Brennstoffe jetzt seltene Erden für E-Autos aus dem Boden geholt werden. „Mir wurde richtig schlecht, weil ich mich so machtlos gefühlt habe“, sagt Johnsen im Rückblick. „Und das Gefühl hielt an, ich bin damit ins Bett gegangen und morgens wieder aufgewacht.“

Die wichtigsten Infos über die Aktivisten: Mitglieder, Strafen, Finanzierung – das ist die „Letzte Generation“

Das war Anfang 2022. Johnsen studiert zu diesem Zeitpunkt Erd- und Umweltwissenschaften in Freiburg, hat schon damals vor, sich auch nach dem Studium mit dem Thema Klimawandel zu beschäftigen. Doch auf einmal scheint ihr das nicht mehr schnell, nicht mehr direkt genug. Einen Ausweg aus dem Gefühl der Ohnmacht sieht sie erst, als eine Freundin ihr ein Video der Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ weiterleitet. Johnsen ist fasziniert, geht zu einem Training der Gruppe, bald zum ersten Protest.

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    Gut zwei Jahre später sitzt sie in einer Kneipe im Zentrum von Leipzig, um zu erklären, warum sie für genau diese „Letzte Generation“ jetzt ins Europaparlament einziehen will. Die 26-Jährige ist die Spitzenkandidatin der Gruppe für die Europawahl am 9. Juni.

    Lina Johnsen: Vom Kleben auf der Straße ins Europaparlament?

    An diesem Abend liegt ein voller Tag hinter ihr: Am Vormittag hat sie auf einer Veranstaltung auf der Buchmesse über Demokratie und Protest diskutiert, am Nachmittag haben sie und Mitglieder der „Letzten Generation“ die Kampagne zur Europawahl vorbereitet und Strategien beraten. Zwischendurch haben sie – erfolglos – versucht, dem Bundespräsidenten, der an diesem Tag ebenfalls auf der Buchmesse war, eine Unterschrift für eine Erklärung abzujagen.

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    Trotzdem erklärt Johnsen die Ziele der Gruppe, die Gründe für ihre Kandidatur mit unverminderter Energie. Sie spricht schnell, als ob sie der Dringlichkeit des Problems mit ihren Worten kaum hinterherkäme. Mit dem Finger malt sie die Kurve der Treibhausgasemissionen auf den Holztisch vor sich, schraffiert die Fläche unter der imaginären Linie, die umso größer ist, je später die Kurve sinkt. So wie es ist, könne es nicht weitergehen, das ist der Kern ihrer Botschaft. Und den will Johnsen ins Parlament bringen.

    Für die Bewegung, die nicht als Partei, sondern als „sonstige politische Vereinigung“ antreten will, markiert der Schritt eine neue Phase. Berühmt und bald auch berüchtigt wurden die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ erst mit einem Hungerstreik zur Bundestagswahl, später dann mit den regelmäßigen Straßenblockaden, bei denen sich die Mitglieder der Gruppe auf dem Asphalt festklebten. Auch Johnsen war dabei, erst als „Deeskalationsperson“, die den Autofahrenden erklären sollte, was die Leute in den orangenen Warnwesten eigentlich wollen. Später saß sie auch selbst auf der Straße. Andere Mitglieder der Gruppe sprühten Farbe auf das Brandenburger Tor und Privatjets auf Sylt. Große Teile der Öffentlichkeit reagierten auf die Aktionen mit Unverständnis und Wut, Teile des Staates mit dem Strafrecht.

    Auch in Brüssel und Straßburg will die „Letzte Generation“ weiter protestieren

    Jetzt rüttelt der in den vergangenen Jahren lauteste Teil der deutschen Klimabewegung am Zaun einer Institution, die so komplex und vielstimmig ist, dass sie auf die Stimme der Einzelnen oft schalldämpfend wirkt. Doch die „Letzte Generation“ hat nicht vor, leiser zu werden. Zum einen bedeutet der Schritt in den parlamentarischen Raum nicht, dass die Gruppe nicht mehr auf den Straßen aktiv ist. Zwar erklärten die Aktivistinnen und Aktivisten kürzlich, sich nicht mehr auf Straßen kleben zu wollen, doch auf Protestaktionen im öffentlichen Raum setzen sie weiterhin. Bei sogenannten „ungehorsamen Versammlungen“ versucht die Gruppe, durch Menschen auf Fahrbahn und Gehweg Straßen zu blockieren, und hofft auf spontane Unterstützung von Passanten.

    Von der Straße ins EU-Parlament? Hier blockierte Lina Johnsen noch das Kottbusser Tor in Berlin.
    Von der Straße ins EU-Parlament? Hier blockierte Lina Johnsen noch das Kottbusser Tor in Berlin. © IMAGO/dts Nachrichtenagentur | IMAGO stock

    Zum anderen dient die Bewerbung für das Europaparlament dem Zweck, das Parlament „aufzumischen“, das verrät schon die Bezeichnung der offiziellen Wahlliste. Es ist nicht der klassische Gang durch die Institutionen, den die Aktivistinnen und Aktivisten anstreben, auch Johnsen macht das klar. Sie wollen es sich zwar nicht nehmen lassen, an Entscheidungen mitzuwirken. Aber der Grund für die Bewerbung zur Wahl ist das nicht. Das Europaparlament, sagt Johnsen, sei „eine weitere Bühne, die wir uns nehmen“.

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    Für ihre Botschaft, dass die Kipppunkte im Klimasystem der Erde gefährlich nahe sind, für das, was sie als notwendige Kurskorrektur sehen. Vier inhaltliche Kernpunkte nennt die Spitzenkandidatin auf Nachfrage: jegliche Ablehnung von Menschenfeindlichkeit, dafür soziale Gerechtigkeit. Die Unterstützung von sozial gerechten Protest- und Klimabewegungen. Der EU-weite Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen bis 2030, und Gesellschaftsräte, die die Demokratie wieder „handlungsfähig“ machen sollen.

    200.000 Kreuze für einen Sitz im Europaparlament

    Sich unter rund 700 Abgeordneten Gehör zu verschaffen, ist allerdings nicht so leicht. Davon können andere kleine politische Vereinigungen berichten. Angst, dass ihre Stimme untergehen könnte, hat Johnsen aber nach eigener Aussage nicht. „Vielleicht nehmen wir Kleber mit, vielleicht nehmen wir Farbe mit, vielleicht schmieren wir Pudding ans Mikrofon.“ Das mit dem Pudding ist ein Scherz. Der Rest ist ernst gemeint. „Alle friedlichen Mittel des Protests sind denkbar, um Leute direkt zu konfrontieren, nicht ausweichen zu lassen, um die Aufmerksamkeit auf das aktuelle Politikversagen zu lenken“, sagt Johnsen. Die Menschen könnten auch Vorschläge mache, was sie von der „Letzten Generation“ im Parlament sehen wollen.

    Ohnehin versteht sich Johnsen im Wortsinn als Vertreterin derer, die sie gewählt haben – die Entscheidungen, die sie bald möglicherweise als Abgeordnete treffen kann, sollen nicht ihre alleine sein. „Ich will, dass meine Entscheidungen auch die Interessen von schlecht bezahlten Berufsgruppen repräsentieren, die über die letzten Jahrzehnte nachweislich nicht berücksichtigt wurden“, sagt sie. „Wer bin ich, einfach zu entscheiden?“

    Wie das genau aussehen soll, daran arbeiten sie derzeit noch. Das Kernteam und eine eigene Arbeitsgruppe zum Europaparlament planen derzeit, wie die „Letzte Generation“ die Bewegung, aber auch die Bevölkerung einbeziehen könnte in die Ausübung des Mandats. „Schwarmintelligenz“ sei jedenfalls hilfreich, gerade bei schwierigen Entscheidungen, sagt Johnsen. Neben ihr hat die Gruppe noch 11 weitere Kandidatinnen und Kandidaten nominiert.

    Ob sie in die Position kommen wird, Entscheidungen zu treffen, ist offen. Am kommenden Freitag prüft der Bundeswahlausschuss, ob die Liste der „Letzten Generation“ zur Wahl alle formellen Anforderungen erfüllt und zur Wahl zugelassen wird. Und dann? Müssen sie nur noch gewählt werden. 200.000 Kreuze, rechnet die „Letzte Generation“, brauchen sie, um Lina Johnsen zur Abgeordneten zu machen.