Berlin. Bei Artilleriemunition herrscht weltweit Mangel. Die Türkei und Rheinmetall spielen Schlüsselrollen bei der Materialschlacht mit Putin.

Eine große Sorge des ukrainischen Armeechefs Oleksandr Syrskyj ist, dass seinen Soldaten die Munition ausgeht. Russland hat sich auf einen Abnutzungskrieg in der Ukraine eingestellt, der Westen nicht oder zu spät. Nun wird mit aller Macht aufgeholt:

  • EU-Staaten wollen weltweit Munition für die Ukraine kaufen.
  • Der größte Hersteller westlicher Artilleriemunition, Rheinmetall, weitet die Produktionskapazitätten aus.
  • Die Türkei avanciert zu dem Munitionslieferanten der USA.

Am 9. Mai reist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach Washington. Wenn er im Weißen Haus mit US-Präsident Joe Boden trifft, geht es einmal mehr um die militärische Zusammenarbeit. Neben Rheinmetall spielt die Türkei eine Schlüsselrolle, und die Munitionsbeschaffung ist kriegsentscheidend.

Die USA kommen mit der Produktion von Munition nicht nach. DieAmerikaner haben den Bedarf unterschätzt. Nun sorgen sie sich um den Nachschub: für sich, für die Ukraine und Israel. Die weltweiten Engpässe betreffen auch die Supermacht.

Wie die Türkei zum Krisengewinnler wurde

Wie es heißt, sollen bis 2025 knapp 30 Prozent aller US 155 mm Artilleriegeschosse von der türkischen Rüstungsfirma Repkon hergestellt werden. In einem Statement äußerte sich das Pentagon zuversichtlich: Die Zusammenarbeit sei „Schlüssel, eine globale Verteidigungsindustrie aufzubauen.“ Laut der Agentur Bloomberg wird die Türkei zum größten Artilleriemunition-Lieferanten der USA.

Die Türkei ist ein Krisengewinnler. Sie hat faktisch eine Kompensation für ihre Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens erzielt, nämlich F-16-Kampfjets von den USA. Sie hat die Ukraine mit Bayraktar-Drohnen beliefert, ohne dass es ihr bislang als antirussische Haltung vorgeworfen worden wäre.

Erst Anfang März sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Ankara vor. Er weiß zu gut, dass die Türkei die zweitgrößte Armee der Nato stellt und dementsprechend über große Bestände an Munition verfügt.

Die Bundeswehr liefert 10.000 Geschosse

Um die Munition war es auch beim letzten Treffen der „Ukraine-Kontaktgruppe“ auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein gegangen. Die Verbündeten stellten 180.000 Artilleriegranaten ab Sommer in Aussicht und mittelfristig weitere 100.000 Stück.

Kurzfristig will Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) 10.000 Artilleriegeschosse aus Beständen der Bundeswehr liefern. Indes, so viel feuert die Ukraine in weniger als eine Woche. Der Munitionsmangel ist unfassbar groß.

Rheinmetall spielt eine Schlüsselrolle

Es gibt Hunderte Munitionstypen, verschiedene Kaliber, für jeden Panzertyp oft anders, Spreng-, Nebel- und Leuchtgeschosse. Was der Ukraine am meisten fehlt, ist allerdings 155-Millimeter-Artilleriemunition.

  • Die Reserven gehen zur Neige
  • Bei der Produktion gibt es Engpässe
  • Europa kann nicht genug liefern
  • Die US-Militärhilfe droht zu versiegen.

Fachleute gehen davon aus, dass die Ukraine in diesem Jahr keine Offensive starten wird, hingegen einen Durchbruch der Russen befürchten muss. Im Hintergrund läuft ein Ringen um die Produktionskapazitäten und die Lieferketten.

Eine Schlüsselrolle spielt ein Unternehmen aus Düsseldorf: Rheinmetall, Munitionslieferant Nummer eins in Europa und weltgrößter Hersteller von Artilleriemunition. Vorstandschef Armin Papperger sagte unserer Redaktion: „Wir haben im Augenblick eine viel zu geringe Munitionsproduktion in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika.“

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Rückkehr des konventionellen Krieges

Nach unterschiedlichen Schätzungen feuert die ukrainische Artillerie pro Tag 2000 bis 5000 Schuss ab und die Russen etwa fünfmal mehr. Gleichzeitig greifen sie mit Raketen ukrainische Fabriken an, die Munition herstellen. Umgekehrt versucht die Ukraine, den russischen Nachschub zu treffen – auch deswegen will sie Marschflugkörper längerer Reichweite wie den Taurus. Lesen Sie dazu: Taurus-Flugkörper – Alles über die Wunschwaffe der Ukraine

Der Ukraine-Krieg hat viele verstörende Seiten. Eine davon ist die Rückkehr zum konventionellen Krieg. Die meisten Armeen in Europa wähnten sich weiter, sie waren längst auf weniger intensive Krisenintervention getrimmt. Nun erleben sie mitten in Europa eine Materialschlacht. „Die westliche Welt hat sich nicht mehr auf konventionelle Munition konzentriert. Das war, glaube ich, ein großer Fehler“, meint Papperger.

Die Artillerie feuert im Minutentakt

Beide Seiten feuern im Minutentakt Artilleriegranaten ab. Guy McCardle, Chefredakteur des Special Operations Forces Report, rechnete im letzten Sommer vor, dass die Ukraine in fünf Tagen so viele 155-Millimeter-Artilleriegeschosse – der Standard in der Nato – abfeuere, wie die USA in einem Monat produzieren würden.

Deutschland hat seit Beginn des Krieges vor zwei Jahren 64.000 Schuss 155-Millimeter-Artilleriemunition aus Beständen der Bundeswehr und der Industrie geliefert. So viel verfeuert die Ukraine binnen Wochen.

China hilft Putin indirekt

Das Bündnis empfiehlt jedem Mitglied Vorräte für 30 Tage im hochintensiven Gefecht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Bundeswehr vor dem Krieg nur Munition für wenige Tage besaß. In der Rüstungsindustrie wird der Nachholbedarf der Truppe bei Munition auf bis zu 40 Milliarden Euro geschätzt.

Ein Geschoss besteht aus drei Teilen, der Hülle aus Stahl, der Hauptsprengladung und einem Zünder. Für die Sprengladung braucht man Ladungspulver, landläufig Schießpulver (in Wahrheit Stäbe oder Pellets) genannt. Ein Rohstoff dafür: Nitrozellulose, ein Nebenprodukt der Herstellung von Baumwolle. „Es ist das Pulver, woran es uns derzeit wirklich fehlt“, klagt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. China ist ein großer Lieferant, aber nicht der einzige.

Putin geht an die Reserven – und in Nordkorea auf Shoppingtour

Russland hat größere Reserven an Munition angelegt (es hat diesen Krieg gewollt, geplant, entfacht) und seine Industrie auf Kriegswirtschaft umgestellt. Es wird vermutet, dass Kremlchef Wladimir Putin größere Bestände von Nordkorea erworben hat.

Nordkorea hilft Russland mit Munition aus.
Nordkorea hilft Russland mit Munition aus. © AFP | Str

Letztes Jahr hatte die EU der Ukraine eine Million Geschosse bis März in Aussicht gestellt. Nun wird es höchstens die Hälfte. Kurzfristig behilft man sich damit, auf Initiative des tschechischen Präsidenten Petr Pavel weltweit eine halbe Million Schuss des Kalibers 155 Millimeter zu kaufen. So viel hat er außerhalb Europas „identifiziert“.

Indes, einige Staaten unterstützen Russland, viele verhalten sich neutral, darunter etwa Indien und Brasilien. In Ramstein war nicht mehr von einer halben Million die Rede, sondern nur von 180.000.

Produziert Rheinmetall mehr als alle US-Hersteller?

Mit so einem Deal würde man Zeit gewinnen, bis die Produktion in Europa richtig an Fahrt aufnimmt. Rheinmetall hat vor dem Krieg etwa 70.000 bis 80.000 Artilleriegeschosse im Jahr produziert, mittlerweile dürften es 350.000 bis 450.000 sein.

Der tschechische Vizeverteidigungsminister Jan Jires behauptete auf einer Veranstaltung des Hudson Institute in Washington, dass die Firma aus Düsseldorf damit mehr Granaten produziere als die gesamte US-Verteidigungsindustrie.

Biden: „Dieser Kampf wird nicht billig sein.“

Auch die Amerikaner wollen die Produktion ausweiten. Unklar ist, wie groß ihre Vorräte sind und wie viel sie entbehren können. Ganz zu schweigen davon, dass die Lieferungen zuletzt innenpolitisch umstritten waren.

Schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatte Präsident Biden erkannt: „Dieser Kampf wird nicht billig sein. Aber vor der Aggression nachzugeben, wäre noch kostspieliger.“ Heute ist das Argument von damals kein Selbstläufer mehr in Washington.

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Die Düsseldorfer wollen die ganze Produktionskette in einer Hand

Rheinmetall hat Ende 2022 für 1,2 Milliarden Euro den spanischen Munitionsherstellers Expal gekauft und plant Werke in Litauen und in der Ukraine. Im Februar erfolgte der erste Spatenstich für eine neue Fabrik in Niedersachsen.

Allein, bis in Unterlüß die geplanten 200.000 Geschosse im Jahr produziert werden, dauert es drei Jahre. „In unserem Werk Niedersachsen werden wir bei der Artilleriemunition weitgehend autark arbeiten und den ‚Full Shot‘ aus einer Hand anbieten – Geschoss, Zünder, Sprengladung und Treibladung“, so Papperger.

Mittelfristig könnte Rheinmetall 700.000 Geschosse produzieren, eine Million gar, wenn Werke in Litauen und in der Ukraine dazukommen. Auch Nammo aus Norwegen und die deutsche Rüstungsschmiede Diehl erhöhten ihre Produktion an Artilleriemunition.

Über Rahmenverträge mit der Bundeswehr ist der Absatz für die nächsten Jahre garantiert. Die Unternehmen haben die Sicherheit, dass sich die Investitionen lohnen werden.

Ab 2026 spürt auch Russland die Zermürbung

Spätestens 2026 wären die Europäer wohl in der Lage, die Ukraine mit genug Munition zu versorgen, ihre eigenen Lager aufzufüllen – und mit Russland Schritt zu halten? Der britische Thinktank Rusi schätzt die russische Jahresproduktion an Artilleriemunition auf eine Million. Dazu hat das Land stillgelegte Werke wieder in Betrieb genommen, Produktionslinien und Schichten erweitert.

Die Experten kommen zum Schluss, dass Putin versuchen wird, den Widerstand der Ukraine bis 2025 zu brechen, weil er in der Zwischenzeit einen Großteil seiner Reserven verschossen und die Munitionsproduktion ausgereizt haben wird.

Jetzt öffnet sich ein Zeitfenster zu seinen Gunsten. Die Frage ist, ob die Ukraine so lange durchhalten und wie man ihr über die Versorgungsengpässe hinweghelfen kann.

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