Tokio. Japan diskutiert über sexistische Entgleisungen des Spitzenpolitikers Taro Aso – und offenbart dabei ein tiefergehendes Problem.
Taro Aso will es nicht so gemeint haben. Mag sein, dass der 83-jährige japanische Politikdinosaurier seine Außenministerin Yoko Kamikawa als „Tantchen“ und „nicht hübsch“ bezeichnet habe. Aber seine Rede vom vorvergangenen Sonntag, als Aso diese Worte herausrutschten, sei doch als Lob für Kamikawas Arbeit gemeint gewesen. „Es hat vorher nie eine Frau als Außenministerin gegeben“, betonte Aso. Aber das sei leider untergegangen, im Vordergrund stand der Eindruck des Sexismus. So muss sich einer der wichtigsten Politiker des Landes rechtfertigen. Mal wieder.
Seit Tagen regt sich Japan über diese Rede auf: Denn das politische Schwergewicht Aso – der nach einer einjährigen Amtszeit als Premierminister bis 2009 sieben Jahre lang als Finanzminister diente und seit seinem dortigen Ausscheiden 2021 noch als einer der einflussreichsten Politiker der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) fungiert – hat eine Parteikollegin für ihr Alter und Aussehen beleidigt. Auf einen öffentlichen Sturm der Entrüstung ist Aso in die Defensive gegangen. Aber das größere Problem dahinter: Wohl kaum jemand nimmt ihm ab, dass er es ernst meint.
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Japan: Spitzenpolitiker Taro Aso leistet sich immer wieder Entgleisungen
Denn für Sprüche, die man mehrmals hören muss, um sie zu glauben, ist Taro Aso längst bekannt. Als er einmal auf Japans relativ niedrige Infektionszahlen in der Pandemie angesprochen wurde, erklärte er diese mit dem Wort „mindo“, also Japans „hohem Zivilisationsniveau“ im Vergleich zu anderen Ländern. Als der bis 2020 regierende rechtsnationalistische Premierminister Shinzo Abe die Verfassung umschreiben wollte, um individuelle Rechte einzuschränken und das Militär aufzustocken, riet Aso, man könne sich bei Verfassungsänderungen doch mal die Nazis zum Vorbild nehmen.
Bei Japans niedriger Geburtenrate, die zur demografischen Alterung und zum Arbeitskräftemangel beiträgt, beschuldigte Aso auch schon die Frauen im Land, die keine Kinder zur Welt bringen. Die Liste ließe sich fortführen. Und sie betrifft nicht nur den 83-jährigen Politiker. Auch der mit 86 Jahren noch etwas ältere Yoshiro Mori, wie Aso ein hoher LDP-Kader und Ex-Premierminister, hat schon zahlreiche Aufreger verbucht. Einer davon, im Vorfeld der Olympischen Spiele 2021, war Moris Behauptung, dass Frauen in Gremien die Sitzungen verlangsamen, weil sie sich nicht kurzfassen könnten.
Japans Politiksektor ist von alten Männern dominiert
Verbale Entgleisungen, die auf Faschismus, Rassismus und Sexismus hindeuten: Japans Politiksektor hat offenbar ein Problem. Meist kommt es aus der übermächtigen konservativen LDP, meist sind es hochbetagte Männer. Aber nicht nur: Auch der aktuelle Premierminister Fumio Kishida, 66, der als gemäßigt gilt, kommt ohne eine Portion Sexismus wohl nicht aus. Als er von konservativer Seite in die Kritik riet, weil er fünf Frauen in sein Kabinett berufen hatte, sagte Kishida über seine Personalien: „Ich hoffe, sie werden die Sensibilität und Empathie zeigen, die nur Frauen haben.“
Das war offenbar freundlich gemeint, deutete aber kaum auf ein Weltbild hin, in dem Gender bei den Fähigkeiten einer Person keine Rolle spielt. Immer wieder hat Kishida als Premier auch davor zurückgeschreckt, deutlichere Schritte in Richtung Geschlechtergleichheit und Anti-Diskriminierung zu tun. Weiterhin müssen Frauen in Japan ihren Nachnamen ablegen, wenn sie heiraten. Weiterhin ist in Japan, als einzigem G7-Land, keine gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Im Gender Gap Report des World Economic Forum belegt Japan von 146 Ländern Platz 125.
In Japan ist ein respektvoller Umgangston eigentlich wichtig
Und diverse Äußerungen deuten immer wieder darauf hin, dass das kein Zufall ist. Wobei vermeintlich unüberlegte Sprüche gerade in Japan bemerkenswert erscheinen. Die im ostasiatischen Land dominante Kommunikationskultur legt großen Wert auf Höflichkeit. Wer Kritik äußern will, tut dies im Dienst der Höflichkeit oft indirekt, manchmal verpackt in ein Lob. Die Form, so beschrieb es der französische Semiotiker Roland Barthes bei seinen Beobachtungen in Japan einmal, scheine hier wichtiger als der Inhalt. Und bei den Formen sei eben die Würde aller Beteiligten besonders wichtig.
So ergeben die wiederholten Aufreger durch Politiker – die eigentlich ja Kommunikationsprofis sind – auf den ersten Blick kaum Sinn. Es sei denn, es handelt sich dabei gar nicht um Entgleisungen, sondern um ehrlich gemeinte Äußerungen, und die Personen, die sie aussprechen, können das Gefühl haben, über den für die Allgemeinheit etablierten Regeln zu schweben. In einem altershierarchisch organisierten Land wie Japan trifft all dies zu: Wohl auch, weil Japans Politiksektor nicht nur konservativ dominiert ist, sondern auch überwiegend als älteren Männern besteht.
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Verbale Ausreißer lassen das Ansehen von Japans Politiksektor schwinden
Wobei sich dies auf das Ansehen des Politiksektors auswirkt, glaubt Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophia Universität in Tokio. „Junge Menschen haben oft den Eindruck, sie können in der Politik sowieso nichts ändern.“ Sie seien liberaler eingestellt, fühlten sich aber umso mehr als Fremdkörper, je fremder ihnen einflussreiche Menschen seien, die mit Skandalen einfach so davonkommen. Tatsächlich zeigen Umfragen, dass nur ein sehr geringer Anteil der Menschen in Japan das Gefühl hat, die Politik würde ihre Interessen vertreten. Nakano sagt: „Das ist ein Problem der Glaubwürdigkeit.“
Der 66-jährige Fumio Kishida hat Taro Aso für seine jüngsten Äußerungen auch nur auf indirekte Weise – kritisiert: „Ungeachtet des Geschlechts oder sozialen Standards sollten Äußerungen, die über das Alter oder das Aussehen einer Person herziehen, wodurch diese sich unwohl fühlt, nicht gemacht werden.“ Aber mehr wird es wohl nicht werden. Kishida, der nicht nur Japans Premierminister ist, sondern auch Parteipräsident der LDP, wird Aso offenbar nicht dazu drängen, sein Amt als LDP-Vizepräsident niederzulegen. Aso hat es ja nicht so gemeint. Mal wieder nicht.