Berlin. Im Tod des Kremlkritikers erkennt Militärexperte Masala eine deutliche Ansage an den Westen. Für Deutschland hat er einen Rat.

Er zählt zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um die beiden Konflikte in der Ukraine und in Israel.

Herr Masala, Experten sagen, dass wir in fünf Jahren kriegstüchtig sein müssen – denn dann könnte Putin sein Militär konsolidiert haben. Ist das machbar?

Carlo Masala: Ja, das ist machbar. Es gibt mittlerweile in Polen sogar die Auffassung, dass es innerhalb von drei Jahren so weit sein könnte. Wladimir Putin hat seine gesamte Industrie auf Kriegswirtschaft umgestellt. Er provoziert. Er hält die Systeme zurück und setzt sie nicht in der Ukraine ein. Es ist von daher realistisch, dass wir in einem Zeitraum von etwa drei bis acht Jahren rekonstituierte Landstreitkräfte sehen, die in der Lage sind, wieder vollumfänglich zu operieren.

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    Welche Systeme hält er zurück?

    Das sind vor allem Panzer. Russland produziert Panzer und Raketen. Aber wir sehen nicht den vollen Einsatz an der ukrainischen Front.

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    Wie schnell kann Europa tatsächlich kriegstüchtig sein?

    Das ist zunächst einmal eine Frage der Ressourcen, und daran wird mit Hochdruck gearbeitet. Es ist auch eine Frage der Strukturen und des Mentalitätswandels. Da hinken wir hinterher, weil viele europäische Gesellschaften die von rekonstituierten russischen Landstreitkräften ausgehende Bedrohung nicht sehen. In Deutschland gehen wir unsere Baustellen schon an, etwa die Beschaffung der Systeme, die uns fehlen. Zum 1. April werden wir eine Strukturreform der Bundeswehr sehen.

    Was gehört noch dazu?

    Es geht vor allem um das Mindset der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft diese Auffassung nicht mitträgt, dann ist es egal, was die Bundeswehr macht. Dann werden wir nicht in der Lage sein, unsere Gesellschaft in einem Bündnisfall zu verteidigen.

    Was muss dafür in der Gesellschaft konkret passieren?

    Wir brauchen ein Bewusstsein darüber, dass wir in einer Situation leben, die potenziell kriegsgefährdend ist.

    So ein Bewusstsein lässt sich schwer messen.

    Richtig, aber man kann es kommunikativ vermitteln, indem man darüber redet. Außer dem Bundesverteidigungsminister redet hier keiner darüber.

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    Wie stellen Sie sich eine bessere Kommunikationsstrategie dazu vor?

    Die Regierung muss der Bevölkerung klarmachen, dass wir uns auf der einen Seite bereits hybriden Angriffen seitens der russischen Föderation ausgesetzt sehen. Auf der anderen Seite gilt es zu kommunizieren, dass das Szenario einer begrenzten russischen Aggression gegen einen Nato-Mitgliedstaat kein unrealistisches ist. Wenn das nur der Verteidigungsminister sagt, wird jeder sagen, na ja, der tut das, um mehr Geld zu bekommen. Wenn das aber ein Bundeskanzler sagt, hat das eine andere Qualität.

    Das heißt, der Bundeskanzler müsste da aktiv werden.

    Eigentlich die gesamte Regierung. Die Gesellschaft ist einer Bedrohung durch eine hybride Kriegsführung ausgesetzt. Da ist es auch Aufgabe einer Innenministerin und eines Justizministers, deutlich zu machen: Hier wird ein Krieg mit nichtmilitärischen Mitteln gegen unsere Gesellschaft geführt.

    Was hält den Bundeskanzler davon ab, deutlicher zu werden?

    Darüber möchte ich nicht spekulieren.

    Desinformations-Kampagnen und Destabilisierung politischer Systeme gehören zum Repertoire Russlands. Wie sehen Sie Europa dagegen aufgestellt?

    In den aktuellen Fällen sehr schlecht. Ein Beispiel: Gerade erst haben wir erfahren, dass diese ganze Laptop-Geschichte um Joe Bidens Sohn Hunter vom russischen Geheimdienst aufgesetzt war.

    Ein FBI-Informant ist demnach vom russischen Geheimdienst mit Falschinformationen über den Präsidentensohn gefüttert worden. Darin ging es um angebliche Bestechungsgelder, die Hunter Biden und sein Vater Joe von einem ukrainischen Gasunternehmen erhalten haben sollen. Die Republikaner wollten die Vorwürfe als Grundlage für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den US-Präsidenten nutzen …

    Genau. Zwei Jahre lang ist das Thema in den USA gewesen! Obwohl eine der entscheidenden Personen zugegeben hat, dass das alles erfunden war, glaubt dennoch ein Großteil der Menschen, dass da etwas dran ist. Wir sind extrem schlecht auf so etwas vorbereitet.

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    Welches Land könnte als nächstes konkret in den Fokus des Kremls geraten?

    Das wären alles unseriöse Spekulationen. Eines ist aber klar: Wenn wir über Nato-Territorium reden, sind die baltischen Staaten das natürliche Objekt der Begierde Russlands. Darüber hinaus haben wir mit Moldawien und Georgien zwei Staaten, auf die Russland ebenfalls Anspruch erhebt. Beide sind keine Nato-Mitglieder.

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    Wie kann man sich das weitere Vorgehen Russlands vorstellen?

    Meistens sind es russische Minderheiten, die als Einfallstor für die Russische Föderation herhalten müssen. Vor wenigen Wochen hat Putin mit Blick auf Lettland gesagt, man solle die Rechte der russischen Minderheiten bei den kommenden Wahlen respektieren. Das ist normalerweise ein klassischer Vorlauf.

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    Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Schicksal Alexej Nawalnys erfahren haben?

    Das ist ein klares Signal Putins: Er hat überhaupt gar kein Interesse an Kooperation oder an Verhandlungen mit dem sogenannten Westen mit Blick auf die Ukraine oder die Zukunft Russlands im internationalen System. Es war für mich ein Zeichen, dass er willens und bereit ist, seine Politik rücksichtslos durchzusetzen.

    Waren Sie schockiert?

    Ich war nicht schockiert, dass Nawalny tot ist. Aber das Timing hat mich dann doch schockiert. Ein deutlicheres Signal können die Russen nicht geben: An dem Tag, an dem die Ukraine mit Deutschland und Frankreich einen Sicherheitsvertrag schließt und daneben die Münchner Sicherheitskonferenz stattfindet, kommt aus Moskau der ausgestreckte Mittelfinger. Wenn man weiß, dass Putin sehr geschichtsversessen ist, ergibt das alles auch Sinn.