Kiew. Gezielt greift Russland ukrainische Kraftwerke mit Kamikaze-Drohnen an – viele sind zerstört. Nun wächst die Furcht vor der Kälte.

„Wer klug ist, hat im Sommer zu niedrigeren Preisen eingekauft. Nun wird alles langsam teurer“, sagt ein Verkäufer in einem großen Technik-Supermarkt im Norden Kiews. Besonders begehrt: Akkus, Generatoren, Kerzen, Powerbanks und andere Waren, die man ohne Strom betreiben kann. Die Ukraine bereitet sich auf einen zweiten Winter mit knapper Energie vor.

Nachdem Russland in der Nacht von Freitag auf Samstag erneut Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur geflogen hatte, waren laut ukrainischem Energieministerium im Süden und Südwesten des Landes insgesamt 416 Orte ohne Strom – und auch in Teilen der Hauptstadt hatte es schon Ende Septembers große Schwierigkeiten gegeben. In der Nacht auf Samstag schoss Russland eigenen Angaben nach 38 Kamikaze-Drohnen aus iranischer Fertigung auf die Ukraine ab. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in seiner täglichen Ansprache: „Je näher der Winter rückt, desto mehr russische Versuche wird es geben, die Angriffe zu verstärken.“

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Vergangenes Jahr hatten die Russen schon am 10. Oktober damit begonnen, durchschnittlich 50 und 60 Raketen pro Woche auf Elektrizitäts- und Heizkraftwerke im Land abzufeuern. Auch iranische Kampfdrohnen waren wie bei den jüngsten Angriffen zum Einsatz gekommen. In der Folge waren selbst in Großstädten weit entfernt von der Front, etwa in Kiew und Lwiw, tagelang ganze Stadtteile ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser geblieben – und das mitten im Winter. Durch zusätzliches planmäßiges Abschalten lebte das gesamte Land über Wochen nach dem Modus drei Stunden mit, drei Stunden ohne Strom.

„Wir können nicht sagen, wie gut wir vorbereitet sind“

Was Moskau mit der neuen Angriffswelle erreichen könnte, hängt auch davon ab, wie groß die Schäden aus dem vergangenen Winter noch sind. Zwar äußert sich die ukrainische Regierung aus Gründen der Geheimhaltung kaum dazu, doch in einem UN-Bericht vom April heißt es, 42 von 94 systemkritischen Transformatoren seien beschädigt oder zerstört worden. Sie waren die Hauptziele der russischen Angriffe gewesen: Auch wenn es schwer ist, die noch zu Sowjetzeiten aus Sorge vor einem Atomkrieg gebauten Kraftwerke nachhaltig zu beschädigen, die Transformatoren sind verwundbar – und ihre Herstellung dauert lange.

Generatoren sind begehrt in der Ukraine – im Winter drohen durch die teils zerstörte Energie-Infrastruktur neue Blackouts.
Generatoren sind begehrt in der Ukraine – im Winter drohen durch die teils zerstörte Energie-Infrastruktur neue Blackouts. © picture alliance / NurPhoto | Str

Ohne intakte Transformatoren droht der Strom beim Endkunden nicht anzukommen. „Die gesamte Stromerzeugung kann funktionieren“, sagt Andrij Herus, Vorsitzender des Energieausschusses des ukrainischen Parlaments. „Aber an manchen Stellen hat man drei Transformatoren in der Reserve und an anderen nur einen. Dieser Faktor spielt eine Schlüsselrolle bei neuen Angriffen.“ Rund 100 neue Transformatoren soll Kiew bestellt haben, die Hälfte im In- und die Hälfte im Ausland. Unklar ist jedoch, wie weit deren Produktion fortgeschritten ist und um wie viele systemrelevante, große Transformatoren es sich dabei handelt.

Zwar könnten im Ernstfall auch ausgemusterte Transformatoren schnell einsatzbereit gemacht werden, doch ob das ausreicht, weiß Herus nicht. „Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie gut wir vorbereitet sind“, sagte er ukrainischen Medien. Was die Fähigkeiten der Flugabwehr angeht, steht die Ukraine zu Beginn des Winters aber definitiv besser da als ein Jahr zuvor: Westliche Systeme wie Patriot oder das deutsche Iris-T haben sich als sehr effektiv erwiesen. Ihr Nachteil: Es ist unmöglich, mit den wenigen Systemen das gesamte Territorium der Ukraine vollständig vor Luftangriffen zu schützen.

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Zwar dürfte Russland allein aus objektiven Produktionsgründen nicht in der Lage sein, erneut so viele Raketen wie bei der vorigen Welle auf die Energieinfrastruktur abzufeuern, doch inzwischen werden iranische Kampfdrohnen auch auf russischem Boden produziert. Die Armee setzt sie gezielt dazu ein, die ukrainische Flugabwehr zu überfordern – und den russischen Raketen so leichteres Spiel zu ermöglichen. Schon im September war eine Rekordzahl an Langstreckendrohnen über das Land geflogen.

Experten sehen keinen Grund zur Panik – zumindest vorerst

Die Ukraine arbeitet daher nicht nur an einer verbesserten Flugabwehr, sondern auch an technischen Befestigungen für konkrete Energieanlagen. Zu den Details wollen sich ukrainische Energiebetreiber aus naheliegenden Gründen allerdings kaum äußern. Hinzu kommt das Wetter. Der vergangene Winter war mild, das hat massiv dabei geholfen, die Angriffe zu überstehen. Sinken die Temperaturen in diesem Jahr aber auf -5 bis -7 Grad und weniger, müsste die Ukraine auch ohne russischen Beschuss auf planmäßige Blackouts umstellen, glaubt Wolodymyr Omeltschenko, Direktor der Energieprogramme der Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Neue Angriffe würden die Lage dann zusätzlich verschärfen.

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Trotzdem sehen Experten keinen Grund für Panik. „Ich bin verhalten optimistisch, weil wir wohl nicht vor einem sehr kalten Winter stehen“, betont Andrian Prokip, ebenfalls vom Zentr Rasumkowa. Allerdings geht er generell von ähnlichen Zuständen wie im Winter 2022/2023 aus. „Es wird Ausfälle geben und es kann lokal wieder zu sehr, sehr schwierigen Situationen kommen“, sagt er. „An einen totalen, wochenlangen Blackout glaube ich aber nicht.“

Vergangenen Winter hatten ukrainische Atomkraftwerke, die trotz des Wegfalls des russisch besetzten AKW Saporischschja nach wie vor den Großteil des Stroms erzeugen, kurzzeitig abgeschaltet werden müssen – allerdings nicht wegen der Angriffe selbst, sondern um die Schäden für das Energienetz zu verkleinern. „Das kann jederzeit wieder passieren“, erklärt Prokip. „Und es dauert dann ein paar Tage, bis die gesamte Infrastruktur vollständig hochgefahren wird.“ Dies sei jedoch auch das schlimmste Szenario – zumindest, solange die Russen nicht auf eine vollkommen neue Angriffstaktik umsteuern.