Kiew. Die Hoffnungen auch des Westens waren groß, nun scheint klar: Die Gegenoffensive kommt nicht voran. Doch eine Trendumkehr ist möglich.

Fünf Monate nach ihrem Beginn ist die ukrainische Gegenoffensive ins Stocken geraten. Der erhoffte Durchbruch in Richtung Asowsches Meer im Süden fand nicht statt. Woran lag es? Welche Fehler wurden gemacht? Wie stehen die Chancen, dass die Ukraine 2024 mehr Erfolg hat? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was waren die Ziele der Gegenoffensive?

Noch 2022 liebäugelte die Militärführung mit dem Gedanken, in Richtung Melitopol nahe dem Asowschen Meer vorzustoßen, um die Landbrücke zur annektierten Krim-Halbinsel zu durchbrechen. Für die ukrainische Armee war das seit Beginn der russischen Invasion die strategische Priorität Nummer eins. Doch zu dieser Operation kam es nicht. Die Mittel dafür – vor allem die notwendige Bewaffnung – fehlten. Stattdessen gelang ein Überraschungsmanöver im Bezirk Charkiw, auch die Stadt Cherson wurde befreit.

Im Laufe dieses Jahres wurde Melitopol letztlich doch noch zur Hauptstoßrichtung der ukrainischen Offensive, die Anfang Juni begann. Allerdings hatte die russische Armee viele Monate Zeit, um massive Verteidigungsstellungen aufzubauen – und es wurde schnell klar, dass der Durchmarsch bis Melitopol kein leichtes Spiel sein würde.

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Während es im offiziellen Kiew zunächst durchaus optimistische Stimmen gab, äußerten sich sowohl der Armeebefehlshaber Walerij Saluschnyj als auch der damalige Verteidigungsminister Oleksij Resnikow über die Erfolgschancen der Offensive eher zurückhaltend. Die Befreiung von Melitopol galt als Maximalziel. Doch die Stadt Tokmak zurückzuerobern, ein wichtiger logistischer Knotenpunkt auf dem Weg nach Melitopol, wäre bereits ein großer strategischer Erfolg gewesen.

Wie fällt die Bilanz der Operation bisher aus?

„Man muss feststellen, dass sowohl die Ukraine als auch Russland ihre Ziele in diesem Jahr bisher nicht erreicht haben“, betont Oleksandr Mussijenko, Chef des Zentrums für militärrechtliche Studien in Kiew. „Wir hatten taktische und vielleicht gar strategische Erfolge, doch alles in allem ist es natürlich anders gelaufen, als wir uns das vorgestellt haben.“

In der Nähe von Kupjansk überprüfen ukrainische Soldaten einen Panzer nach einem russischen Angriff auf Schäden.
In der Nähe von Kupjansk überprüfen ukrainische Soldaten einen Panzer nach einem russischen Angriff auf Schäden. © IMAGO/SOPA Images | IMAGO/Marco Cordone / SOPA Images

Das heißt: Der ukrainischen Armee ist es zwar gelungen, die Hauptverteidigungslinien der Russen teils zu durchbrechen – sowohl in Richtung Melitopol als auch etwas östlicher in Richtung der Städte Berdjansk und Mariupol. Damit schuf die ukrainische Armee wichtige Aufmarschgebiete, die für zukünftige Offensiven sehr wertvoll sind. Allerdings bleiben die Ukrainer vom Knotenpunkt Tokmak rund 20 Kilometer weit entfernt. Das realistische Hauptziel der Operation wurde damit bislang klar verfehlt.

„Es ist Anfang November und nicht der 29. Dezember – und ich wäre noch sehr vorsichtig damit, die Jahresbilanz zu ziehen“, sagt der Lwiwer Militäranalyst Stanislaw Besuschko, der bereits im Donbass-Krieg kämpfte und nun wieder an der Front ist. „Es ist nicht so, als ob die Offensive schon zu Ende wäre. Unsere Verkeilungen in die russische Defensive werden täglich ausgeweitet, wenn auch manchmal nur um 200 Meter pro Tag. Es bleibt aber trotzdem sehr wichtig.“

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Besuschko spielt damit nicht nur auf den Frontabschnitt bei Melitopol, sondern auch auf die Lage im Bezirk Cherson an. „Die ukrainische Informationspolitik ist dazu sehr still, aber es ist offensichtlich, dass es dank unserer amphibischen Landungsversuche gelungen ist, drei kleine Gegenden auf dem russisch kontrollierten östlichen Ufer des Dnipro-Flusses zu kontrollieren“, erklärt er. „Sollte sich dieser Erfolg ausweiten, wäre die Lage dort für die russische Armee nicht ungefährlich.“

Was lief schief – und wie ließe sich das korrigieren?

Aus Sicht der Ukraine ist der Hauptgrund für die stockende Gegenoffensive eindeutig. Saluschnyj hatte schon Ende 2022 sehr deutlich und konkret gesagt, dass er 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen benötige, um den Status quo im Krieg zugunsten der Ukraine zu drehen. „Um die Krim oder die besetzten Teile von Donezk und Luhansk ging es ihm dabei nicht“, sagt Besuschko. Die Realität sei, dass die Ukraine zwar fast alle Waffenarten bekommen habe – oder sie zumindest angekündigt worden seien, doch dies nicht in ausreichender Zahl.

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„Es ist klar, dass 2022 schlicht Möglichkeiten verpasst wurden, als die Russen noch nicht mobilgemacht hatten und es diese ausgebauten Verteidigungsstellungen noch nicht gab“, sagt der Experte weiter. „Die Strategie des Westens war da noch, der Ukraine nicht zum Sieg zu verhelfen, sondern sie nur nicht verlieren zu lassen.“ Ebenso wie Befehlshaber Saluschnyj in seinem jüngsten Artikel für „The Econimist“ warnt auch Besuschko vor einem für die Ukraine „gefährlichen“ Stellungskrieg.

Auch in der Ukraine wächst die Sorge, dass sich der Krieg in einen Stellungskrieg verwandelen könnte.
Auch in der Ukraine wächst die Sorge, dass sich der Krieg in einen Stellungskrieg verwandelen könnte. © AFP | Roman Pilipey

„In Sachen elektronische Kampfführung gehören die Russen objektiv zu den Besten auf der Welt, sie haben viele progressive Technologien“, erklärt der Militäranalyst. „Wir haben die Vorteile der westlichen Artillerie gegenüber der russischen gesehen, sie schießt einfach weiter und genauer. Die Russen schaffen es aber oft, deren Leitsysteme zu stören.“ Wichtig sei einerseits, gegen die russischen Lancet-Drohnen anzukommen, die bis zu 130 Kilometer in die Tiefe fliegen können – und andererseits die Lieferungen der Kampfjets F-16, um den ukrainischen Luftraum besser schützen zu können und mehr Freiraum zu haben, um Flugabwehrsysteme in die Nähe der Front zu verlegen. „Für die Luftüberlegenheit bräuchte man aber 150 bis 200 Flugzeuge, was nicht passieren wird“, so Besuchko.

Der Bereich, in dem am dringendsten westliche Hilfe gebraucht wird, ist für Besuschko aber die Ausrüstung zur Minenräumung. „Da erwarte ich, dass sich unsere westlichen Partner stärker mobilisieren“, sagt er. „Wir haben sowieso zu wenig davon bekommen. Bei dem enormen Ausmaß der Verminung im Süden sehen wir nun aber eindrücklich, dass die Lebenszeit der bereits gelieferten Ausrüstung nicht groß ist. Es ist überlebenswichtig, dass hier mehr passiert.“

Wie sehen die Aussichten für die Zukunft aus?

Während die Kremlführung offiziell mit dem Begriff „Friedensverhandlungen“ spielt, spricht die Realität eine andere Sprache. Nicht nur hat Russland längst auf Kriegswirtschaft umgesteuert. Die russischen Haushaltsplanungen sehen massive Kriegsausgaben auch für die kommenden drei Jahre vor. Ganz offensichtlich setzt Präsident Wladimir Putin auf einen sehr langen Abnutzungskrieg – mit der Hoffnung, dass sich die westliche Hilfe für Kiew mit der Zeit erschöpft. Welche Aussichten hätte dann die Ukraine? Könnte es tatsächlich zu einem Stellungskrieg kommen, wie Saluschnyj warnt?

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    Besuschko glaubt, dass die Ukraine noch rund ein Jahr ohne größere Rückschläge durchhalten kann. „Essenziell ist die Frage der Munitionsproduktion“, meint er. „Die westliche Produktion ist noch nicht da, wo sie sein sollte. Es dauert, bis diese Maschinerie wirklich effektiv hochgefahren wird.“ Im kommenden Jahr und auch 2025 dürfte das ihm zufolge dann aber der Fall sein. „Wenn wir bis dahin unsere Fehler korrigieren und etwa in der elektronischen Kampfführung besser werden, können wir unsere Grundvorteile bei der Artillerie erfolgreicher und bedeutender ausspielen“, zeigt sich der Experte optimistisch.