Berlin. Militärexperte Carlo Masala warnt vor der Möglichkeit einer russischen Attacke auf ein Nato-Land. Auch die Bundeswehr wäre involviert.

Nach Ansicht des Militärexperten Carlo Masala würde ein militärischer Erfolg Russlands in der Ukraine die Bedrohung für das Baltikum erhöhen. Sollte es Russland gelingen, „17 bis 18 Prozent des ukrainischen Staatsterritoriums dauerhaft besetzt zu halten“, sei es nicht unwahrscheinlich, dass Präsident Wladimir Putin auch einen oder mehrere baltische Staaten in den Fokus nehme. Was das bedeuten könnte und wie ein solches Szenario verhindert werden kann, erklärt er im Interview mit dieser Redaktion.

Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, rechnet „über kurz oder lang“ mit einem konventionellen russischen Angriff auf Nato-Gebiet. Sie auch?

Carlo Masala: Sollte sich Russland in der Ukraine durchsetzen und 17 bis 18 Prozent des ukrainischen Staatsterritoriums dauerhaft besetzt halten, dann halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass es auf längere Sicht den russischen Versuch geben wird, einen oder mehrere baltische Staaten konventionell anzugreifen. Die Lehre, die Russland gezogen hat, ist, dass kein Land massiv gegen einen Nuklearwaffenstaat vorgehen will. Moskau könnte sich die Frage stellen, ob die Nato bereit wäre, gegebenenfalls eine nukleare Eskalation zu riskieren, wenn Russland konventionell ein relativ kleines Territorium – auch wenn es ein Nato-Mitgliedsstaat ist – angreift.

Halten Sie nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine auch eine Attacke auf Deutschland für möglich?

Masala: Nein, das halte ich momentan für relativ unwahrscheinlich. Das heißt nicht, dass im Zuge eines solchen Angriffs zur Abschreckung auch Raketen gegen Nato-Mitgliedsstaaten eingesetzt werden würden. Aber das würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Nato-Staaten aktiv in den Konflikt eingreifen. Die russische Logik sieht so aus: Wenn sich Russland nur auf die baltischen Staaten begrenzen und kein weiteres Nato-Mitgliedsland angreifen würde, dann könnte man darauf bauen, dass vielleicht doch nicht andere Nato-Staaten zur Verteidigung des Baltikums herbeieilen werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte eine „Zeitenwende“ angekündigt. Doch davon ist nach Aussage von Masala nicht viel bei der Bundeswehr angekommen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte eine „Zeitenwende“ angekündigt. Doch davon ist nach Aussage von Masala nicht viel bei der Bundeswehr angekommen. © ddp/Jutta Prechtel | Jutta Prechtel

Wie wäre die Bundeswehr darauf vorbereitet?

Masala: Die Bundeswehr wird demnächst 5000 Kräfte in Litauen stationiert haben. Deutschland wird in den baltischen Staaten das größte konventionelle Kontingent von allen Nato-Mitgliedsländern haben. Die Bundeswehr wäre bei einem militärischen Angriff Russlands auf Litauen massiv involviert.

Sie sind in Ihrem gerade veröffentlichten Buch „Bedingt abwehrbereit“ hart mit der Bundeswehr ins Gericht gegangen. Wo sehen Sie heute die größten Defizite?

Masala: Bei der Personalgewinnung: Wir bekommen nicht genug Leute für die Bundeswehr. Darüber hinaus muss der Prozess der Rüstungsbeschaffung beschleunigt werden. Da sind wir auf dem Weg. Es ist aber immer noch extrem schwierig.

Die Stadt Awdijiwka in der Ostukraine droht zu einem zweiten Bachmut zu werden.
Die Stadt Awdijiwka in der Ostukraine droht zu einem zweiten Bachmut zu werden. © action press | Ягодкин Дмитрий

Was ist von der durch Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigten „Zeitenwende“ bei der Truppe angekommen?

Masala: Nicht so sonderlich viel. Bei der persönlichen Ausrüstung für Soldatinnen und Soldaten gibt es Fortschritte. Beim Material wird es noch dauern, weil die entsprechenden Vorlagen erst eingereicht wurden.

Russland versucht mit einem gigantischen Aufwand an Menschen und Material, die Stadt Awdijiwka im Donbass einzukesseln. Was steckt dahinter?

Masala: Awdijiwka wird von den Ukrainern seit 2014 gehalten. Russland will den Ukrainern diese Stadt wegnehmen, obwohl sie keine große strategische Bedeutung hat. Moskau versucht damit auch, die Front im Süden zu entlasten, indem ukrainische Kräfte im Donbass gebunden werden. Die Schlacht um Awdijiwka hat eher symbolischen Charakter. Das ist ähnlich wie bei den Kämpfen um Bachmut.