Berlin. Ohne die Frauen der Verschwörer gegen Hitler wäre der Widerstand undenkbar gewesen. Eine von ihnen: Ursula Schleicher, geb. Bonhoeffer.
In diesen Tagen jährt sich der Versuch eines Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 zum 79. Mal. Im Berliner Bendlerblock, am Ort der Hinrichtungen in Plötzensee und an vielen anderen Orten im Land wird dann vor allem der Männer des Widerstands um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Helmuth James von Moltke oder Julius Leber gedacht. Und in der Tat: Die Planer, Vorbereiter und Aktivisten der Widerstandsbewegung, die im Attentat des 20. Juli kulminierte, waren Männer. Ohne ihre Frauen wäre der Widerstand aber nicht denkbar gewesen. Auch wenn sie nach außen hin wenig in Erscheinung traten, hatten sie einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellung der Männer.
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Viele von ihnen waren in die konspirativen Planungen eingeweiht, dachten und planten mit, bereiteten Treffen und Konzepte vor, ermutigten und bestärkten die Männer, ihrem Gewissen zu folgen. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war hoch: Sie verloren ihre Ehemänner, hielten die Familien in der größten Bedrohung zusammen und mussten alleine die Verantwortung für die Kinder übernehmen, als die Männer verhaftet und ermordet worden waren. Manche von ihnen gerieten in „Sippenhaft“, fast alle hatten ihre materielle Existenzgrundlage verloren.
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Als viertes von acht Kindern geboren
Noch lange nach Kriegsende, als die Witwe von Roland Freisler, der als Präsident des Volksgerichtshofs die Todesurteile über die Verschwörer gesprochen hatte, schon lange eine Angestellten-, Kriegsopfer- und Schadenausgleichsrente erhielt, waren diese Frauen auf sich alleine gestellt und erhielten keinerlei staatliche Unterstützung. Das kollektive Beschweigen der Nazi-Zeit in der Republik der Blockwart-Kinder und -Enkel führte eben auch zu einem Ausblenden derjenigen, die sich mutig und entschieden der Diktatur entgegengestellt hatten.
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Eine der Frauen des Widerstands war Ursula Schleicher, meine Großmutter. Wer sie kannte, konnte sich kaum vorstellen, dass sie einmal in einen existenziellen Konflikt mit dem Staat geraten, ja, Teil eines konspirativen Netzwerks war. Viel zu bürgerlich, viel zu protestantisch-konservativ wirkte sie auch noch im Alter.
Geboren wurde Ursula Schleicher 1902 in Breslau als viertes von acht Kindern und als älteste Tochter des Psychiaters Karl Bonhoeffer und seiner Frau Paula, geborene von Hase. Als ihr Vater 1912 den Ruf auf eine Professur für Neurologie und Psychiatrie an der Charité annahm, zog die Familie nach Berlin. Die Welt, in der Ursula aufwuchs, war großbürgerlich-wohlhabend: Erzieherinnen, Hausmädchen, Privatlehrer, Musikunterricht – all das war selbstverständlich. Doch die zweifellos privilegierten Verhältnisse waren an soziale Verantwortung gekoppelt. So wurde Ursula mit 16 Jahren von ihrer Mutter nach Breslau geschickt, um eine Familie mit sieben kleinen Kindern und einem Mann, der sich als Trinker erwies, zu versorgen. Anstrengend sei diese Zeit gewesen, schrieb sie später, aber auch sehr befriedigend. Wohl aus dieser Erfahrung heraus wurde sie Fürsorgerin, heute würde man „Sozialarbeiterin“ sagen. Ich kann mich gut erinnern, wie sie uns Enkeln von ihren Erlebnissen in der Fruchtstraße in Berlin-Friedrichhain erzählte, wohin sie täglich aus dem schönen Grunewald aufbrach, um sozial schwachen Familien zu helfen. 1923 heiratete sie den sieben Jahre älteren, aus Stuttgart stammenden Juristen Rüdiger Schleicher. Er war im Reichsverkehrsministerium und im Luftfahrtministerium beschäftigt und leitete daneben später als Honorarprofessor das Institut für Luftrecht an der Berliner Universität. Es blieben ihnen zehn einigermaßen friedliche gemeinsame Jahre. Vier Kinder kamen zur Welt, und die Schleichers genossen ihr Leben im Kreis der Großfamilie.
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Politisches Denken war ihnen suspekt
Die Welt der Bonhoeffers ist heute kaum noch zu verstehen. Die Angehörigen dieser Familie waren eng miteinander verbunden. Auch wenn es Einzelne immer wieder mal aus Berlin wegzog – die Hauptstadt, erst Grunewald, dann das Westend, blieb ihr Lebensmittelpunkt. Der familiäre Austausch über naturwissenschaftliche, theologische und kulturelle Fragen muss aufregend gewesen sein. Der junge, zeitgemäße Ansätze suchende Theologe Dietrich, der früh zu Ruhm gekommene Physiker Karl-Friedrich und der Jurist Klaus Bonhoeffer bewegten sich in ihren Arbeitsgebieten am Puls der Zeit. Das galt auch für die Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz, die Schwestern Ursulas geheiratet hatten, und für Rüdiger Schleicher, der mit seiner Spezialisierung auf Luftfahrt ein avantgardistisches Rechtsgebiet entwickelte.
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Übermäßig interessiert an Politik war die Familie nicht und schon gar nicht engagiert. Wie so vielen bürgerlichen Kreisen war den Bonhoeffers politisches Denken und vor allem Handeln fremd, ja suspekt. Politisch aktiv wurden sie unfreiwillig, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen. Seit ihrem Aufstieg hatten sie die Nazis abgelehnt, jetzt stellten sich die Bonhoeffers mehr und mehr gegen sie. Eine Schwester Ursulas, Sabine, musste mit Mann und Kindern wegen der jüdischen Herkunft Gerhard Leibholz’ Deutschland verlassen. Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher entschieden sich für die aktive Opposition.
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Auf die Gestapo gewartet
Ursula begann, Verfolgten zu helfen, wo sie nur konnte. Für sie gab es kein Wegschauen, kein Verdrängen der Realität. Sehr genau nahm sie wahr, wie Juden entrechtet und verfolgt wurde; früh wusste sie von den Grausamkeiten, die in den Konzentrationslagern geschahen. Ganz bewusst beschäftigte sie mit dem Judenstern Gebrandmarkte in ihrem Haus. Sie stand jüdischen Freunden und Bekannten bei, bereitete mit ihnen den bitteren Gang ins Exil vor und versuchte ihnen zu zeigen, dass sie nicht von allen verstoßen und verfolgt waren. Und sie ließ sich den Mund nicht verbieten.
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Überliefert ist die Geschichte, wie die Frau des Blockwarts sich bei ihr beklagte, dass es ihrem siebenjährigen Sohn wegen seines „feinen rassischen Empfindens“ nicht zugemutet werden könne, zusammen mit einem jüdischen Mädchen in die Schule gebracht zu werden. Ursula empfahl trocken, den Sohn dann doch lieber selbst zur Schule zu bringen. Ihre Brüder, ihr Schwager und ihr Mann bauten Netzwerke von Oppositionellen auf, fädelten sich in andere konspirative Gruppierungen ein und diskutierten immer intensiver, wie der sich verschärfenden Unrechtspolitik Einhalt geboten werden könnte. Ursula war hier eine wichtige Gesprächspartnerin. Sie stellte ihr Haus für Besprechungen der Verschwörer zur Verfügung, auch wenn ihr Mann im Dienst war. Über die damit verbundenen Gefahren war sie sich im Klaren.
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Als ihr Bruder Dietrich am 5. März 1943 erfuhr, dass seine Verhaftung unmittelbar bevorstand, ging er direkt zu Ursula. Sie kochte ihm ein gutes Essen, und gemeinsam warteten sie auf die Gestapo, die ihn bald abholte. Am selben Tage wurden Hans von Dohnanyi und seine Frau Christine, Ursulas Schwester, verhaftet. Rüdiger Schleicher intensivierte nun seine konspirativen Aktivitäten. So war er jetzt in die Entwicklung von Plänen für die Aufrechterhaltung der zivilen Luftfahrt nach einem Staatsstreich eingebunden. Als das Attentat auf Hitler am 20. Juli scheiterte und Verwandte und viele Freunde verhaftet wurden, wussten auch Schleichers, dass sie in großer Gefahr fahren. Was hätte Rüdiger tun sollen? Fliehen oder untertauchen und damit seine Frau und Kinder gefährden? Freitod, um im Falle der Verhaftung nicht gezwungen zu werden, Aussagen zu machen, die die anderen Verschwörer belasten? Wie müssen die beiden gerungen haben um den richtigen Weg.
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Aber auch die unmittelbare Bedrohung hielt sie nicht davon ab, das für sie Selbstverständliche zu tun. Als die gerade aus der Haft entlassene Witwe des wegen Beteiligung am Attentat hingerichteten Paul von Hase mit ihren Kindern vor ihrer Tür stand, weil ihr Haus beschlagnahmt worden war und niemand, auch nicht die engste Familie, sie aufnehmen wollte, bot meine Großmutter ihnen sofort Unterkunft in ihrem Haus an. Am 4. Oktober 1944 wurde Rüdiger Schleicher verhaftet. Ursula setzte sich nun mit ganzer Kraft für ihren Mann und die anderen Inhaftierten der Familie ein. Unzählige Bekannte wurden angesprochen, um Gnadengesuche auf den Weg zu bringen, Befreiungsversuche erwogen, die Kommunikation mit den Gefangenen über Geheimcodes und Kassiber mühsam aufrechterhalten. Schleicher wurde vor dem Volksgerichtshof angeklagt und Anfang Februar 1945 wegen Mittäterschaft am Attentat zum Tode verurteilt.
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Wenig später informierte Ursula ihren Sohn, der im Kriegseinsatz war: „Freisler hat am 2. 2. Vater, Onkel Klaus, Hans John und Friedrich Justus Perels zum Tode verurteilt (…) Ich war am 3. früh beim Volksgerichtshof und habe dem Oberreichsanwalt gesagt, dass sie unschuldiges Blut vergießen, wenn das Urteil vollstreckt würde, und dass das gerächt würde. Er sagte ,Gnädige Frau, ich verstehe Ihre Erregung, möchte aber solche Worte hier nicht hören’; ich sagte: ,Das glaube ich, aber es ist so!’ Darauf kam Vollalarm. Ich ging in Vaters Institut in den Keller. Es kam dieser fürchterliche Angriff. Obwohl bei uns das Hinterhaus abgerissen wurde und Bombe auf Bombe fiel – alles schwankte, der Stuck fiel ab, Wasser kam in den Nebenkeller – hat mich noch nie ein Angriff so kalt gelassen; ich dachte nur, wenn es nur die Richtigen träfe!“
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Von Berlin nach Hamburg
Alle Versuche, ihren Mann zu retten, waren vergebens. Wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, in der Nacht zum 23. April 1945, wurde Rüdiger Schleicher durch Genickschuss von der SS ermordet. Mit ihm starben Klaus Bonhoeffer und seine Freunde Hans John und Friedrich Justus Perels. Wenige Tage später erfuhr Ursula von der Ermordung ihres Bruders Dietrich und des Schwagers Hans von Dohnanyi.
Ursula Schleicher, am Kriegsende gerade einmal 43 Jahre alt, stand nach diesen Ver-lusten auf der Kippe. Es waren ihre Kinder und die alten Eltern, für die sie ihr Leben weiterführte. Umgekehrt war es ihr Vater, der noch mit 78 Jahren als Arzt eine Stelle annahm, um die vier vaterlos gewordenen Familien zu unterstützen. Nach dem Mauerbau zog Ursula weg aus Berlin und baute in Reinbek bei Hamburg in der Nähe von guten Freunden ein Haus. 20 Jahre lang wurde es wieder zum Mittelpunkt der Familie und zu einem Ort, an dem viele Menschen ihr Urteil und ihren Rat suchten oder einfach ihre Nähe. Sie liebte ihre Enkel – und wir liebten sie. Sie starb 1983.
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„Das große Geschenk, das uns durch die Männer und Frauen des Widerstands erreicht, ist der Beweis, dass Widerstand möglich war, genau in der Zeit, in der die große Mehrheit das Gift getrunken und sich unter die Diktatur gestellt hatte“, sagte Rabbiner Albert Friedländer einmal. Ursula Schleicher hat uns dieses Geschenk gemacht.
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