Saporischschja. Borysivka liegt in Sichtweite des AKW Saporischschja. Die Menschen im Dorf leben mit der Angst vor dem Gau – und hoffen auf Gott.
- Die Lage um das Atomkraftwerk Saporischschja spitzt sich erneut zu
- Kiew und Moskau werfen sich gegenseitig vor, in allernächster Zeit einen Anschlag auf Europas größtes AKW verüben zu wollen
- Das Dorf Borysivka liegt 25 Kilometer von dem AKW entfernt – und damit in der Todeszone, sollte es zu einer nuklearen Katastrophe kommen
- Ein Besuch vor Ort
Auf dem Spielplatz von Borysivka schaukeln und wippen die Kinder, sie jauchzen, es ist ein schöner Sommertag. Die Spielgeräte sind alt, sie stammen offenbar noch aus Sowjetzeiten. 700 Kilometer nordwärts gibt es in einer Stadt namens Prypjat einen Spielplatz, der so ähnlich wie der aussieht, auf dem die Kinder jetzt in Borysivka toben. In Prypjat spielen aber seit 1986 keine Kinder mehr. Es war das Jahr, als im Atomkraftwerk Tschernobyl ganz in der Nähe der Reaktorkern von Block 4 explodierte.
Fast vier Jahrzehnte später droht in der Ukraine erneut eine nukleare Katastrophe. Diesmal beim Atomkraftwerk Saporischschja, dem größten in Europa. Sollte es dazu kommen, läge Borysivka in der Todeszone. Das Kraftwerk ist knapp 25 Kilometer vom Dorf entfernt. Es liegt am südlichen Ufer des Kachowka-Stausees, dessen Wasserspiegel nach der Zerstörung der Staumauer vor wenigen Wochen drastisch gesunken ist. Seit März des vergangenen Jahres ist die Anlage von russischen Streitkräften besetzt. Was auf dem weitläufigen Gelände geschieht, liegt weitgehend im Dunkeln.
Auch Journalisten ist der Zutritt nicht gestattet. Seit Beginn der Besetzung des Werkes toben in seiner Peripherie Artillerieduelle, immer wieder wurde die Befürchtung laut, es könne deswegen zu einer Katastrophe kommen. Vor wenigen Tagen dann warnte der ukrainische Militärgeheimdienst SBU, die russischen Streitkräfte hätten die Anlage vermint und planten einen Terroranschlag. Moskau weist das zurück und behauptet, die Ukrainer selbst wollten eine nukleare Katastrophe herbeiführen.
AKW Saporischschja: Bei einem atomaren Ernstfall würde Borysivka evakuiert werden
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA, für die ein dauerhaft auf der Anlage stationiertes Team die Lage sondiert, gibt an, keine Anzeichen für eine Verminung entdeckt zu haben. Allerdings habe man nicht zu allen Bereichen Zugang, räumt IAEA-Chef Rafael Grossi ein.
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Borysivka liegt auf der anderen Seite des Stausees. Ein Dorf abseits der Landstraße, die die Regionalhauptstadt Saporischschja mit der Kleinstadt Nikopol verbindet. Borysivka ist umgeben von Äckern, die von Baumreihen durchzogen sind. Das Getreide ist erntereif. Kleine Häuser säumen die staubigen Wege im Dorf. Im Zentrum, in der Nähe des Spielplatzes, sitzen Aljona und ihre Freunde vor einem Kiosk. Aljona feiert heute Geburtstag, sie ist 19 geworden. Entsprechend gelöst ist die Stimmung, trotz der Nachrichten über das Kernkraftwerk, von denen sie natürlich gehört haben.
„Ja, es ist beängstigend. Aber ich glaube nicht, dass die Russen es sprengen werden, das wäre doch auch schlecht für sie“, sagt Aljona und ihre Freundinnen pflichten ihr wortreich bei. Sie sagen auch, sie blieben trotz der Bedrohung im Dorf, weil sie nicht wüssten, wohin sie gehen sollten. „Wenn es explodiert, werden wir hier wegmüssen, es heißt ja, man muss dann einen Bereich von 50 Kilometern um das Kraftwerk verlassen.“ Aber dann sei es doch eigentlich auch egal, wo man hingehe, überlegt Aljona. „Es würde uns ja überall erreichen, das betrifft doch dann auch andere Länder.“
Im Frühjahr 2022 wurden Jodtabletten verteilt – seitdem: nichts
Einige Meter weiter ertönt hinter einem Gartenzaun lautes Hämmern. Ein Mann mit grauen Haaren und sonnengebrannter Haut öffnet das Tor, schaut etwas verwundert. Angst? Nein, sagt Mischa. Seine Familie lebe schon immer in Borysivka, das Atomkraftwerk gebe es schon lange, für ihn und seine Frau Olena habe sich auch in den vergangenen Monaten nichts verändert.
„Wir sind schon pensioniert, wir sind über 60. Was passieren wird, wird passieren.“ Wenn das AKW explodiere, sei das ja auch nicht direkt tödlich, erklärt Mischa. „Ein paar Jahre hat man ja dann noch.“ Sorgen mache er sich aber um seine Kinder und Enkelkinder, manche lebten noch näher am Werk.
Es ist eine Mischung aus unterdrückter Angst und Schicksalsergebenheit, auf die man in Borysivka trifft. Von der Regierung, die so eindringlich vor einer nuklearen Katastrophe warnt, erwarten sich die Dorfbewohner nichts. Im Frühjahr des vergangenen Jahres haben Offizielle Jodtabletten an die Menschen im Dorf verteilt und Schutzmasken aus Papier. Seitdem sei von der Regierung nichts mehr zu hören oder sehen gewesen, erzählen die Menschen. „Nur Gott kann uns helfen“, sagt eine Frau.
Bürgermeister von Enerhodar: „Es herrscht depressive Stimmung“
Neben dem Atomkraftwerk liegt die Stadt Enerhodar, die wie die Anlage seit März des vergangenen Jahres von den russischen Streitkräften besetzt ist und in der die Mitarbeiter des Atomkraftwerks leben. Dmitri Orlov ist der Bürgermeister. Er führt seine Amtsgeschäfte seit Beginn der Besatzung von Saporischschja aus und hat noch Kontakt zu Menschen, die auf der Anlage arbeiten. Sie haben ihm berichtet, es seien in den vergangenen Tagen haltbare Lebensmittel in die Anlage gebracht worden. „Das könnte bedeuten, dass sie sich auf eine Belagerung vorbereiten, auf ein Szenario, in dem das Betriebspersonal ständig in der Anlage wäre, ohne sie verlassen zu können.“
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Der Bürgermeister hat auch gehört, dass Kollaborateure in Schlüsselpositionen das Kraftwerk teilweise verlassen haben. Orlov räumt ein, dass es keine Bestätigungen von Mitarbeitern für eine direkte Verminung des Kraftwerkgeländes gebe. Er schließt aber nicht aus, dass so etwas geschieht. „Wir vertrauen unseren Geheimdiensten, die über bessere Quellen und Informationsanalysen verfügen.“ Die Menschen, die noch in seiner besetzten Stadt leben, verfielen nicht in Panik. „Es ist aber nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms eine Art depressive Stimmung aufgekommen. Die Menschen in der Stadt und die Mitarbeiter des Atomkraftwerks wissen jetzt, dass die Besatzer zu allem bereit sind, egal welche Folgen es hat.“
Die ukrainischen Behörden nehmen die Bedrohung durch einen möglichen Atomunfall sehr ernst. Am vergangenen Donnerstag führten sie in den Regionen Saporischschja, Cherson und Dnipro eine großangelegte Notfallübung durch, an der 8000 Menschen teilnahmen. 350 Spezialfahrzeuge und 400 Evakuierungsbusse waren im Einsatz. Simuliert wurde der Austritt von Strahlung aus einem der Kraftwerksblöcke.
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