Berlin . Bei der ukrainischen Offensive geht es im Wesentlichen um drei Faktoren. Diese könnte bald beginnen, wenn man Selenskyj glauben will.
Der Countdown für die lange erwartete Gegenoffensive der Ukraine läuft. "Meiner Meinung nach sind wir ab heute bereit“, sagte in Kiew Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag der US-Zeitung "Wall Street Journal“.
Seit Wochen kündigte sie sich an. Immer wieder wurde über die ukrainische Offensive spekuliert, über die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete: Über den Zeitpunkt und die genaue Stoßrichtung. Im Wesentlichen geht es um drei Faktoren: Wetter, Aufrüstung und Aufklärung.
Ein wichtiger Punkt ist das Wetter, genauer: die Fahrbedingungen. Die Rasputiza ist immerhin vorbei, die berüchtigte Schlammsaison. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, wo genau der Generalstab in Kiew die Gegenoffensive plant. Lesen Sie auch: Ukraine-Krieg: Video zeigt, warum sich Offensive verzögert
Waffen und Munition sind da: 230 westliche Kampfpanzer und 220.000 Geschosse
Eine Schlüsselrolle spielen ferner Bewaffnung und Truppenstärke. Man schätzt, dass die Ukraine zwölf Kampfbrigaden gebildet, ausgerüstet und trainiert hat, mindestens 50.000 Soldaten, wahrscheinlich eher mehr. Eine Offensive setzt zahlenmäßige Überlegenheit voraus, ein Verhältnis 3:1 bei einer Angriffswelle. Nicht zuletzt erhofft sich die Ukraine weitere Luftabwehrsysteme. Ohne verstärkte westliche Hilfe gegen russische Luftangriffe sei die Offensive "gefährlich“, warnte Selenskyj. Lesen Sie dazu: "Gepard"-Panzer: USA treiben die Höllenmaschine für Kiew auf
Zuletzt haben die EU-Staaten in einer ersten Tranche 220.000 Artilleriegeschosse und Mörsergranaten geliefert. Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die Ukraine etwa 230 Kampfpanzer von ihren westlichen Partnern bekommen. Außerdem kann Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj mit modernen westlichen Kampfjets des Typs F-16 rechnen. Die Ausbildung der Piloten läuft offenbar schon. Wenn Saluschnyj auch die abwartet, wird es Sommer. Lesen Sie dazu: Ukraine: Warum der F-16 Russland vor Probleme stellen könnte
Suche nach Schwachstellen in den russischen Verteidigungslinien
Der dritte Faktor ist die militärische Aufklärung. Die Front im Ukraine-Krieg ist über 800 Kilometer lang. Russland hat zwar seine Hausaufgaben gemacht und die Verteidigungsstellungen mit mehreren Linien - hintereinander geschaltet - massiv verstärkt. Aber es verfügt nicht über die Manpower, um die Front überall gleich stark zu verteidigen. Es wird Schwachstellen im russischen Wellenbrecher geben. Auch interessant: Carlo Masala: „Die Ukrainer bereiten das Schlachtfeld vor“
Und die gilt es, in Erfahrung zu bringen. Wo sind Befestigungen schwach ausgebaut oder können umfahren werden? Es geht um das Gelände, aber auch um die Logistik; darum, wie schnell der Gegner Verstärkung herbeiführen kann.
Da helfen Informanten, die Auswertung von Drohnenvideos und Satellitenbilder, aber auch die Reaktionsmuster. Die Ukrainer haben zuletzt mal hier, mal dort angegriffen, um die Reaktionen zu testen. Solche Probeangriffe sollten die Russen ablenken. Zugleich waren sie Vorboten der Offensive.
Michail Podoljak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, twitterte Ende Mai, die Offensive sei kein "einzelnes Ereignis". Im Grunde laufe sie schon seit Tagen. Es seien Dutzende verschiedener Aktionen. "Auch die intensive Zerstörung der feindlichen Logistik ist eine Gegenoffensive."
Es gab bereits Anfang des Jahres auffällige Angriffe auf das russische Aufklärungsradar. Umgekehrt hat Russland die Zahl der Luftschläge erhöht, um die ukrainische Luftverteidigung in Schach zu halten und Waffen- und Munitionsdepots zu zerstören. Schwer zu sagen, für wen die Zeit spielt, für die Ukraine zur Aufrüstung oder für Russland zur Festigung seiner Eroberungen?
Ukrainische Offensive: Erst müssen die Minenfelder geräumt werden
Viele Militärexperten erwarten einen Angriff im Süden und dass die ukrainischen Truppen eine Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim schaffen. Wenn sie bis ans Asowsche Meer vorstoßen, könnte die Landverbindung zwischen Russland und der Halbinsel gekappt werden. Die besetzten Gebiete würden in zwei Teile zerfallen.
Um den Ukrainern das so schwer wie möglich zu machen, hat Russland seine Anlagen auf der Krim und die Frontlinie entlang dem Verlauf des Dnjepr auf einer Länge von etwa 120 Kilometern besonders befestigt. Auf Luftbildern und Satellitenaufnahmen lässt sich verfolgen, wie stark die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin ihre Verteidigung ausgebaut haben. Auf Twitter hat der finnische Militäranalyst das ausführlich dargestellt.
Für einen Durchbruch reicht ein Abschnitt von wenigen Kilometern. Der erste Schritt ist massives Artilleriefeuer aus Hunderten Geschützen. Der Munitionsverbrauch: riesig. Es gibt natürlich eine Reihe von prioritären Zielen: Radaranlagen, Störsender, Mörserstellungen, Kommandoposten, Truppenkonzentrationen, Bunker. Die präzisen Mehrfachraketenwerfersysteme Himars eignen sich für die Angriffe. Dann rücken die im Ideal verdeckt herangeführten Bodentruppen vor. Sie sollen eine Schneise durch das Minenfeld und die Panzersperren schlagen. Wohlgemerkt: Unter feindlichem Beschuss. Schwere Verluste werden die Folge sein. Das ist Selenskyj sehr bewusst: "Eine große Zahl von (ukrainischen) Soldaten wird sterben“, zumindest wenn die Ukraine nicht die benötigten Waffen gegen die russischen Luftstreitkräfte erhalte. Doch glaube sein Land "fest daran, dass wir Erfolg haben werden", sagte dem "Wall Street Journal". Er wisse aber nicht, „wie lange es dauern wird“, fügte der ukrainische Staatschef hinzu. Auch interessant: „Illner“: Sigmar Gabriel mit düsterer Prognose zum Krieg
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Betonsperren, so genannte Drachenzähne, müssen von Pionieren weggetragen, Panzerabwehrgräben zugeschüttet, Minen geräumt werden. Viele westliche Minenräumpanzer wurden geliefert, auch durch die Bundeswehr. In den sozialen Netzwerken ist auch zu sehen, wie die Ukrainer fantasievoll sogar landwirtschaftliches Gerät dafür umfunktioniert haben.
Flucht oder Angriff – welchem Reflex werden die Russen folgen?
Erst danach können die Kampftruppen und Panzer vorrücken, so schnell es nur geht. Die Russen sollen möglichst keine Zeit haben, sich zu formieren. Mit Sicherheit wird die Ukraine an mehreren Stellen gleichzeitig angreifen. Ihre Truppen sollen feindliche Stellungen möglichst umfahren. Da sind die westlichen Waffen entscheidend, Panzer wie der Leopard 2, die sehr beweglich sind und eine überlegene Schussweite haben.
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Niemand weiß, wie gut die Ukrainer beim sogenannten Gefecht der verbundenen Waffen sind. Die Aufgabe ist schwierig, aber machbar. Keiner kann auch die Reaktion der Russen vorhersagen, wenn die Angriffswelle auf sie zurollt. Flucht oder Angriff?
Wenn sie nicht in Panik verfallen, sondern die Ruhe und Ordnung bewahren, kann die Offensive schnell zum Stehen kommen. Dann tritt das Szenario ein, über das laut dem Magazin Politico in US-Regierungskreisen längst diskutiert wird: ein "eingefrorener Konflikt", in dem weder die eine noch die andere Seite erklärter Sieger ist. Dann wäre die Offensive die letzte Chance der Ukraine? Das könnte Sie auch interessieren: London: Ukraine setzt im Krieg umstrittene Uranmunition ein