London. Der Abschlussbericht zum Londoner Hochhausbrand von 2017 erschreckende Erkenntnisse mit sich. Hunderte weitere Gebäude sind betroffen.

Am Mittwoch gegen zwölf Uhr trat Natasha Elcock vor einem Londoner Regierungsgebäude an die Mikrofone und sagte: „Der Richter ist zum selben Schluss gekommen wie wir: Jeder Todesfall jener Nacht war vermeidbar. Wir haben Freunde, Nachbarn und Angehörige durch Raffgier, Korruption, Inkompetenz und Vernachlässigung verloren.“

Elcock ist die Vorsitzende der Kampagne Grenfell United, gegründet nach dem verheerenden Großfeuer, das einen Londoner Wohnblock im Juni 2017 erfasste. 72 Menschen verloren damals ihr Leben, darunter auch Elcocks Onkel. Es war eines der schlimmsten Desaster der britischen Nachkriegszeit.

Bericht fällt vernichtendes Urteil

 Am Mittwoch legte Richter Martin Moore-Bick seinen Abschlussbericht zur Grenfell-Katastrophe vor. Die Grenfell Inquiry, der Moore-Bick vorstand, beschäftigte sich insgesamt sechs Jahre mit dem Fall. Der Abschlussbericht ist 1700 Seiten lang und stützt sich auf 300.000 Akten und Dokumente sowie mehr als 1500 Zeugen- und Expertenaussagen. Das Fazit ist vernichtend. Es ist die Rede von „Jahrzehnten des Versagens“ durch die Regierung, von „systematischer Unehrlichkeit“ seitens der Hersteller von Baumaterialien, und von „anhaltender Gleichgültigkeit“ der Lokalbehörde in Bezug auf die Feuersicherheit.

Moore-Bick sagte bei der Präsentation seines Abschlussberichts: „Die einfache Wahrheit ist, dass jene, die im Wohnblock wohnten, über viele Jahre und auf verschiedene Arten im Stich gelassen wurden, und zwar von jenen, die für die Sicherheit des Gebäudes und seiner Bewohner verantwortlich waren.“

Blitz-Brand kostete 72 Menschen das Leben

Das Feuer im Grenfell Tower, im Westen Londons, brach in der Nacht vom 14. Juni 2017 aus, in einer Wohnung im 4. Stock. Was zunächst relative harmlos erschien, entwickelte sich rasend schnell zu einer Katastrophe: Als die Außenverkleidung des Blocks zu brennen begann, breitete sich das Feuer in kürzester Zeit aus, wenig später brannte Grenfell Tower wie eine Fackel. Die Menschen versuchten, sich in Sicherheit zu bringen – viele schafften es jedoch nicht. Unter den 72 Todesopfern sind 18 Kinder.

Das Feuer im Grenfell-Tower breitete sich rasend schnell aus
Das Feuer im Grenfell-Tower breitete sich rasend schnell aus © AFP | Daniel Leal

Der Bericht der Grenfell Inquiry beleuchtet jedes Detail, jede Behörde und jedes Unternehmen, das am Desaster beteiligt war. Zu den Hauptschuldigen zählen die Hersteller der brennbaren Außenverkleidung, die einige Jahre vor dem Brand am Wohnblock angebracht wurden. Die Unternehmen hätten „absichtliche Strategien“ verfolgt, um ihre Produkte als feuersicher zu verkaufen, obwohl sie wussten, dass sie ein Risiko darstellen.

Aber auch die Entscheidungsträger in Westminster kommen scharf in die Kritik. Seit den 1990er-Jahren hätten die Regierungen „viele Gelegenheiten“ verpasst, sich mit der Gefahr durch brennbare Außenverkleidung zu beschäftigen. Insbesondere wird die konservativ-liberaldemokratische Regierung von David Cameron (2010-2016) für ihre Deregulierungswut zur Verantwortung gezogen. Ihre Entschlossenheit, so viele Regulierungsvorschriften wie möglich über Bord zu werfen, habe dazu geführt, dass „Fragen der Sicherheit ignoriert, aufgeschoben oder missachtet wurden.“

Premierminister: „Hätte nie passieren dürfen“

Premierminister Keir Starmer entschuldigte sich am Mittwoch bei den Überlebenden und den Familien der Opfer. „Es hätte nie passieren dürfen“, sagte er in einem Statement im Unterhaus. Die Regierung werde darauf hinarbeiten, die die Empfehlungen von Moore-Bick umzusetzen. Der Untersuchungsbericht enthält 58 Vorschläge, wie die Feuersicherheit in Wohnblocks verbessert werden kann, darunter die Errichtung einer einzigen Regulierungsbehörde für die gesamte Bauindustrie und bessere Aufsichtsvorschriften für Bauunternehmen, die riskante Gebäude renovieren.

Besonders dringlich sei es, die tausenden Gebäude, an denen noch immer gefährliche Außenverkleidung angebracht ist, so schnell wie möglich zu renovieren, sagte der Premierminister. Nach dem Grenfell-Desaster haben die britischen Behörden panikartig begonnen, Wohnblocks mit ähnlich brennbarer Fassadenverkleidung zu identifizieren – bislang sind mehr als 4600 renovationsbedürftige Gebäude identifiziert worden. An vielen haben die Abrissarbeiten bereits begonnen – „aber es geht viel zu langsam voran“, sagte Starmer am Mittwoch. „Dies muss ein Moment des Wandels sein, und wir werden die nötigen Schritte unternehmen, um den Prozess zu beschleunigen.“

Für die Angehörigen der Opfer wird jetzt die Frage entscheidend sein, ob es zu strafrechtlichen Ermittlungen kommt. Die Londoner Polizei solle dafür sorgen, dass „jede einzelne Person, die am Tod unserer Angehörigen Schuld trägt, zur Verantwortung gezogen wird“, sagte Natasha Elcock. Das könnte jedoch noch dauern. Die Londoner Polizei hat angekündigt, dass sie den Bericht studieren und gegebenenfalls Ermittlungen einleiten wird – das werde aber frühestens in zwölf Monaten passieren.