Berlin. Ungelöste Kriminalfälle bewegen uns auch noch Jahrzehnte später. Ein Experte erklärt, warum das so ist und woran Ermittler oft scheitern.

Ein Mord, der nicht aufgeklärt werden kann, ein Verbrechen, bei dem der Täter nicht gefasst wird – ungelöste Fälle, sogenannte Cold Cases, bewegen die Menschen seit jeher. Viele dieser Taten bleiben scheinbar für immer im kollektiven Gedächtnis. Aber wie kommt es, dass so viele Verbrechen nicht aufgeklärt werden können? Was macht die Faszination an diesen ungeklärten Fällen aus? Und gibt es das „perfekte“ Verbrechen? Das erklärt der Wiesbadener Psychologe und Kriminologe Martin Rettenberger im Interview.

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Herr Rettenberger, warum faszinieren uns Cold Cases?

Martin Rettenberger: Es gibt verschiedene Aspekte. Diese Fälle haben etwas von einem ungelösten Rätsel, einem Geheimnis, dem man auf der Spur ist. Das ähnelt Kriminalfällen, die oft in Filmen oder Büchern thematisiert werden. Die reale Verbrechensbekämpfung gleicht hier stark der fiktionalen Darstellung von Verbrechen. Außerdem spielt in dem Zusammenhang das Bedürfnis nach Gerechtigkeit eine Rolle, dass solche Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Ermittlungserfolge sind dann ein Beweis, dass der Rechtsstaat funktioniert und dass Gerechtigkeit kein Ablaufdatum hat.

Wann spricht man von einem Cold Case?

Rettenberger: Diese sogenannten Altfälle sind Verbrechen, bei denen irgendwann keine unmittelbaren Erkenntnisse mehr zu erwarten sind, bei denen alle Spuren sozusagen „kalt“ sind. Diese Fälle werden in regelmäßigen Abständen wiederaufgenommen und auf neue Ermittlungsansätze hin überprüft.

In der Regel passiert das nur bei besonders schwerwiegenden Delikten, zum Beispiel bei Tötungsdelikten. Das ist auch eine Frage der Verjährungsfristen und Morddelikte verjähren nicht. Grundsätzlich gilt: Sobald es neue Hinweise gibt, wenn beispielsweise neue Beweise vorhanden sind, relevante Zeugenaussagen getätigt oder Leichenteile entdeckt werden, können Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Wenn noch ein Strafverfahren geführt werden kann, sind die Strafverfolgungsbehörden dazu sogar verpflichtet.

Der Psychologe und Kriminologe Martin Rettenberger steht in seinem Büro vor einem Bücherregal.
Der Psychologe und Kriminologe Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle, erklärt die Faszination von Cold Cases. © picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Warum können manche Fälle nicht aufgeklärt werden?

Rettenberger: Es gibt natürlich Verfahren, in denen die Ermittlungsbehörden Fehler gemacht haben. Mir fällt da der Fall Rosemarie Nitribitt ein. Das war eine schillernde Person, eine Prostituierte im Frankfurt der 1950er-Jahre, die ermordet wurde. Da wurden offensichtliche Ermittlungsfehler gemacht: Spuren wurden viel zu spät gesichert, viele Menschen haben diesen Tatort regelrecht zertrampelt. Ein Kleidungsstück, das später als Beweismittel geführt wurde, hat einem Polizisten gehört, der es am Tatort vergessen hat. Das waren mitunter skurrile Fehler, die aber tragische Folgen hatten. Aber sowas ist sicherlich eher die Ausnahme.

Viel häufiger sind die Gründe andere: Gerade bei Tötungsdelikten, auch bei sexuell motivierten, erschwert es die Ermittlungen, wenn zwischen Täter und Opfer keine bekannte oder erkennbare Vortatbeziehung bestand – wenn also angenommen werden muss, dass es eine willkürliche Opferauswahl war. Gleiches gilt für eine schwierige Spurenlage. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es um Leichen geht, die im Wald oder im Wasser abgelegt wurden.

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Cold Cases können manchmal durch DNA-Analyse doch noch gelöst werden

Wie können sich in Fällen, die lange zurückliegen, nach Jahrzehnten noch neue Spuren ergeben?

Rettenberger: Das hat mit der immer besseren Kriminaltechnik zu tun. Damit können Spuren vom Tatort mittlerweile viel detaillierter ausgewertet werden. Am bekanntesten ist wohl die DNA-Analyse. Allerdings braucht es da auch immer einen entsprechenden Abgleich, den sogenannten Treffer in der Datenbank. Die Chance auf so einen Treffer kann mit der Zeit steigen, denn nur in seltenen Fällen werden Personen, die solche schwerwiegenden Delikte begehen, vorher und nachher überhaupt nicht auffällig. So können Personen durch andere Taten mit ungeklärten Fällen in Verbindung gebracht werden.

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Viele Polizeibehörden haben eigene Einheiten für die Bearbeitung von Cold Cases eingerichtet. Wird mittlerweile ein stärkerer Fokus auf die Aufklärung von diesen Altfällen gelegt?

Rettenberger: Ich habe den Eindruck, dass man das behördenseitig intensiver im Blick hat als noch früher. Ich glaube, man hat registriert, dass durch solche Ermittlungen das Vertrauen in den Rechtsstaat gestärkt werden kann – gerade, wenn Strafverfolgung und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Insbesondere in solchen Fallkonstellationen gibt es ein großes Verständnis dafür, dass ein gewisser Aufwand betrieben wird, selbst wenn eine Ermittlung am Ende nicht erfolgreich ist. Da wird niemand sagen, das sei Verschwendung von Steuergeld. Da geht es um zentrale Fragen der Gerechtigkeit und deshalb gibt es dafür eine große Unterstützung in der Gesellschaft.

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Wenn ein Fall trotz aller Bemühungen nicht aufgeklärt werden kann, könnte man ja meinen, es gibt so etwas wie das „perfekte Verbrechen“.

Rettenberger: Nein, das kann es gar nicht geben. Zumindest, wenn man unter perfekt versteht, dass eine Aufklärung dieses Verbrechens von vornherein ausgeschlossen ist. Überall, wo Menschen sich bewegen oder aufhalten, hinterlassen sie Spuren – egal, ob im digitalen oder analogen Raum. Ein „perfektes Verbrechen“ würde einen großen Planungsgrad voraussetzen. Das ist äußerst selten und der größte Unterschied zwischen fiktionalen Darstellungen, wie im Fernsehen, und der Realität. In der Fiktion wirkt es oft, als ob Täterinnen und Täter immer ganz geplant vorgehen, um das perfekte Verbrechen zu begehen.

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In der Realität sieht das anders aus. Der überwiegende Teil bei Tötungsdelikten, bei schwersten Gewalt- und Sexualdelikten, wird mehr oder weniger impulsiv und aus der Situation heraus begangen. Diesen Planungsgrad, den es bräuchte, um ein perfektes Verbrechen zu begehen, gibt es in der Realität ganz, ganz selten.