Berlin. Lucy Letby wurde wegen siebenfachen Mordes an Neugeborenen verurteilt. Doch nun bahnt sich ein Justizskandal an.

Im vergangenen August, als die Geschworenen im Crown Court von Manchester die Krankenpflegerin Lucy Letby schuldig sprachen, war ganz Großbritannien erschüttert. Letby wurde als „schlimmste Babymörderin“ der britischen Geschichte bezeichnet, laut der Presse war sie ein „Monster“, „das Böse“ schlechthin. Zwischen Juni 2015 und Juni 2016, so befand das Gericht, habe sie im Countess Chester Hospital sieben Babys ermordet und versucht, sechs weitere zu töten. Der Richter verurteilte sie zu lebenslanger Haft für jeden einzelnen Tatbestand, ohne Aussicht auf Entlassung; letzte Woche folgte eine weitere Verurteilung wegen versuchten Mordes an einem siebten Baby. „Ihre Böswilligkeit grenzt an Sadismus“, sagte der Richter während der Urteilsverkündung letztes Jahr.

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Aber seither sind Zweifel aufgekommen. Zahlreiche Experten haben auf die Tatsache verwiesen, dass die Beweislage sehr dünn sei. Die Anklage stützte sich auf keinerlei forensische Beweise, um Letbys zu überführen – und kein Zeuge hatte gesehen, wie Letby den Babys Schaden zugefügt hatte. Ausschlaggebend waren vielmehr Indizienbeweise sowie Statistiken, die laut Fachleuten als Beweismaterial sehr unverlässlich sind.

Lucy Letby: Pflegerin war bei allen Todesfällen anwesend

Am Dienstag veröffentlichte der „Guardian“ eine ausführliche Recherche, die solche Expertenstimmen zusammenträgt – die Autorin schreibt von einem „wachsenden Chor von Stimmen“, die Zweifel an der Verurteilung anbringen.

Letby, 34, arbeitete als Krankenpflegerin in der Neugeborenenabteilung im Countess of Chester Hospital, im Westen Englands. Als ab Juni 2015 ungewöhnlich viele Babys starben, ohne dass es eine Erklärung dafür gab, begannen Letbys Vorgesetzte Verdacht zu schöpfen: Sie stellten fest, dass die Pflegerin bei jedem der Todesfälle anwesend war. Schließlich wandten sich die Ärzte an die Polizei. Es begann die größte Ermittlung wegen Kindermordes in der britischen Geschichte.

Letby beteuert bis heute ihre Unschuld

In Letbys Haus fand die Polizei belastendes Material. So hatte Letby auf einen Zettel geschrieben: „Ich bin böse, habe das getan“, und „Ich habe sie absichtlich getötet, weil ich nicht gut genug bin, mich um sie zu kümmern.“ Es war ein entscheidendes Indiz für die Anklage, die es als Beweis für Letbys Schuld anführte. Was jedoch fehlte, waren forensische Beweise, die sie eindeutig hätten überführen können. Letby hält bis heute an ihrer Unschuld fest.

Während des Prozesses nahmen komplexe medizinische Prozesse viel Raum ein. Die Anklage sagte zum Beispiel, dass Letby Babys getötet habe, in dem sie Luft in ihren Blutkreislauf oder ihren Magen gepumpt habe. Aber der Guardian zitiert acht Kliniker, die die Idee, dass der Tod durch die Luftzufuhr in den Magen herbeigeführt werden könne, als „Unsinn“ und „lächerlich“ bezeichnen. Auch die Hautverfärbung bei manchen Babys, die laut der Anklage eine Luftembolie beweise, deutet laut Fachleuten nicht auf diesen Zustand hin.

Zudem sind Bedenken bezüglich des führenden Sachverständigen der Anklage, Dewi Evans, laut geworden. Evans, ein pensionierter Kinderarzt, ist schon oft als Gutachter in Gerichtsfällen aufgetreten – aber Letbys Verteidiger beantragte, dass die Geschworenen seine Aussagen ignorieren sollten. Er sagte, Evans habe seine Theorien so aufgebaut, dass sie die die Argumente der Anklage stützen. Nur wenige Wochen zuvor hatte ein Richter in einem anderen Gerichtsfall ein medizinisches Gutachten von Evans offenbar als „wertlos“ bezeichnet. Der Richter im Fall Letby wies den Antrag der Verteidigung jedoch zurück.

Jutizskandal? Kritische Stimmen zum Fall Letby mehren sich

Die Recherche des Guardian ist nicht die einzige, die den Fall der verurteilten Babymörderin genauer unter die Lupe genommen hat. Am selben Tag hat auch der „Daily Telegraph“ ausführlich über die wissenschaftlichen Bedenken bezüglich ihrer Verurteilung berichtet; manche Experten sprechen von der Möglichkeit eines größeren Justizirrtums. Im Mai hatte das US-amerikanische Magazin „The New Yorker“ bereits einen sehr umfassenden Artikel publiziert, der in dieselbe Stoßrichtung geht. „Eine britische Pflegerin wurde wegen Mordes an sieben Babys verurteilt. Hat sie es getan?“ lautet der Titel des Stücks, verfasst von Rachel Aviv. Die Autorin stützte sich auf Interviews mit unabhängigen Experten sowie auf mehrere Tausend Seiten an Gerichtsprotokollen, darunter Polizeiverhöre und Textnachrichten. Auch hatte sie Zugang zu medizinischen Akten aus dem Krankenhaus.

Nebst dem Fehlen von forensischen Beweisen verweist Aviv auf eine Reihe anderer Ungereimtheiten. Zum Beispiel gebe es an Letbys Persönlichkeit und Biografie nichts, das auf eine Serienmörderin hinweisen würde. Sie „schien eine psychisch gesunde und glückliche Person“, schreibt die Autorin – etwas, das auch der Richter im Letby-Prozess einräumte. Auch zitiert der New Yorker Experten, die davor warnen, zu viel in Statistiken hineinzulesen. Im September 2022, einen Monat bevor der Prozess gegen Letby begann, publizierte die Royal Statistical Society, also die britische Gesellschaft für Statistik, einen Bericht, in dem sie zwei sehr ähnliche Fälle wie jenen von Letby untersucht – und auf die Gefahr hinweist, aus einer Assoziation eine Kausalität zu machen: Das heißt, nur weil jemand bei einer Reihe von Todesfällen anwesend war, ist das kein Beweis, dass die Person die Todesfälle verschuldete.

Auch Letbys Anwälte stehen in der Kritik: Diese verzichteten darauf, medizinische Experten als Sachverständige heranzuziehen, um solche Argumente vorzubringen.

Probleme im Krankenhaus schon vor Letbys Einstellung

Ein Aspekt, der in der Berichterstattung zum Letby-Prozess kaum Beachtung fand, ist die Tatsache, dass die Geburtenabteilung im Krankenhaus von Chester schon länger mit einem fatalen Mangel an Ressourcen kämpfte. Ein im Juli 2016 publizierter Bericht hält fest, dass es Pflegern, Fachärzten, Räumlichkeiten und Ausrüstung fehlte. Schon bevor Letby dort zu arbeiten begann, habe es Bedenken über die Sicherheit gegeben.

Die unabhängigen Experten, die im Guardian-Artikel zur Sprache kommen, wollen nicht so weit gehen, die Pflegerin für unschuldig zu erklären. Aber sie bezweifeln, dass die Beweise ausreichen, um Letbys Schuld festzustellen. „Ich glaube nicht, dass sie einen fairen Prozess hatte“, sagte der Neonatologe Mike Hall.

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