Berlin. Als unsere Autorin und ihr Mann Lena kennenlernten, war klar: Sie wollten dem Mädchen mit infantiler Zerebralparese ein Zuhause geben.

  • Claudia Staudt und ihr Mann haben lange erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen
  • Als Lena in ihr Leben trat, haben sie sich sofort in das kleine Mädchen verliebt
  • Hier berichtet die Mutter, wie sie als Familie gemeinsam das Leben mit Lenas Behinderung meistern

Wenn ich gefragt werde, warum ich ein behindertes Kind adoptieren wollte, antworte ich oft: „Warum nicht?“ Das klingt nüchtern und abgeklärt. In Wahrheit aber war es ein Auf und Ab der Gefühle, Lenas Mama zu werden. Mein Mann und ich lernten Lena im Jahr 2013 zufällig kennen, als sie drei Monate alt und bei Bekannten von uns in Kurzzeitpflege war. Wir hatten damals gerade eine weitere erfolglose künstliche Befruchtung hinter uns, Lena dagegen den Kampf um ihr Leben.  

Lena war vier Monate zu früh auf die Welt gekommen, ihre leiblichen Eltern hatten sie direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben. So kam es, dass sich Lena im Krankenhaus drei Monate lang allein ins Leben kämpfen musste. Danach kam sie in eine Kurzzeit-Pflegestelle – und mein Mann und ich lernten unsere spätere Tochter kennen.  

Nach der Geburt war klar: Lena würde eine Behinderung haben 

Als wir Lena das erste Mal sahen, in ihre dunkelbraunen Augen schauten und ihre winzigen Hände hielten, verliebten wir uns in dieses kleine zarte Wesen. In uns keimte eine Idee auf: Wir, die ungewollt Kinderlosen, könnten dem elternlosen Kind ein Zuhause geben. Wenige Wochen später war daraus ein Herzenswunsch geworden: Ich wollte dieses kleine Baby halten und ihm versprechen, es niemals alleinzulassen und bei allen künftigen Kämpfen an seiner Seite zu sein.  

Lena als Baby. Sie liegt auf der Brust von Claudia Staudt.
Lena als Baby. Sie liegt auf der Brust unserer Autorin Claudia Staudt. © privat | Privat

Dass die Kämpfe kommen würden, war sicher: Schon direkt nach der Geburt war klar, dass Lena ihr Leben lang eine Behinderung haben und pflegebedürftig sein würde: Sie erlitt aufgrund ihrer Frühgeburt Hirnblutungen und lebt mit einer Hirnschädigung, die unter anderem für Spastiken sorgt – also einen permanent zu hohen Muskeltonus. In Medizinerdeutsch heißt das infantile Zerebralparese.

Immer, wenn ich Lena in den ersten Wochen im Arm hielt und ihren Herzschlag an meiner Brust spürte, strömte diese Wärme in meinen Bauch. Ich fühlte: Du gehörst zu mir! 

Das Jugendamt stand einer Adoption kritisch gegenüber 

Lena ist heute elf Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie erfüllt unser Leben mit Freude, Glück und Liebe. Lena zeigt uns jeden Tag, dass wer man ist, wichtiger ist, als was man kann. Sie beeindruckt uns mit ihrem Mut, mit dem sie schon so viel mehr erreicht hat, als die Ärzte prognostiziert hatten. Und sie beweist, dass ein Leben mit Behinderung kein bisschen weniger lebenswert ist als eines ohne.

Wir können uns heute kaum vorstellen, wie unsere Leben verlaufen wären, hätte Lena damals nicht unsere Tochter werden dürfen. Dabei schien es anfangs unmöglich, dass die Behörden unserer Idee, Lenas Eltern zu werden, überhaupt zustimmen würden.  

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Die Adoption klappte nicht, doch es gab eine Alternative

Mein Mann und ich waren nicht als potenzielle Adoptiveltern registriert. Hatten keine Formulare ausgefüllt. Waren noch nicht vom Amt durchleuchtet worden. Und überhaupt: Grundsätzlich, so erklärte das Jugendamt, sei unser Herangehen die falsche Reihenfolge. Erst bewerbe man sich als Adoptiveltern, werde geprüft und in die Kartei aufgenommen. Dann erst komme ein Baby ins Spiel. Doch so schnell wollten wir nicht lockerlassen. 

Wir kontaktierten viele andere Jugendamt-Mitarbeiter, drohten mit Zeitungsartikeln und bettelten um Gehör. Ich hatte Angst, Lena, die mir so ans Herz gewachsen war, würde in einem Heim landen. Was würde dann aus ihr werden? Ich fühlte mich machtlos und ängstlich – genau wie während meiner jahrelangen Kinderwunschbehandlung.  

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Irgendwann klappte es. Das Jugendamt hörte uns an und entschied: Wir dürfen Lenas Eltern werden. Allerdings nicht über eine Adoption, sondern eine Pflegschaft. So haben wir bis heute die Vormundschaft für Lena, und sie trägt unseren Nachnamen. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht dankbar und voller Glück darüber bin, Lenas Mama sein zu dürfen.   

Warum wir ein Kind mit Behinderung adoptieren wollten 

Warum also nun ein behindertes Kind? Die lange Antwort darauf liegt in unserer Familiengeschichte: Mein Mann und ich sind beide in dem Bewusstsein groß geworden, dass das Leben einem keine Garantie auf Unversehrtheit bietet. Mein Opa war blind. Nicht sein Leben lang, aber mein Leben lang. Auch mein Schwiegervater war viele Jahre lang schwer krank. Er starb einige Jahre, bevor ich meinen Mann kennenlernte.  

Wir wissen: Krankheit und Behinderung gehören, so selten sie auch sein mögen, zum Leben dazu. Wer ein Baby erwartet, sollte sich trotz des verständlichen Wunsches nach einem gesunden Kind darüber bewusst sein, dass einem der Wunsch verwehrt bleiben kann.  

Die Pränataldiagnostik kann Erkrankungen und etwaige Behinderungen nur zu einem geringen Prozentsatz ausschließen – und selbst das nicht mit Sicherheit. Auch ein gesundes Baby kann in seinem Leben irgendwann schwer krank werden. Darüber waren mein Mann und ich uns schon immer deutlich im Klaren. 

Lena, ihre Assistenzhündin Ypsi und ihre Mutter, die Autorin Claudia Staudt.
Lena, ihre Mutter und ihre Assistenzhündin Ypsi bei einer Veranstaltung. © privat | Privat

Wir wussten, dass Herausforderungen kommen würden 

Wir waren uns aber auch im Klaren darüber, dass ein Leben mit einem behinderten Kind immense Herausforderungen bereithält. Wir diskutierten lange und intensiv miteinander, mit Freunden, mit der Familie. Wir entwarfen Worst-Case-Szenarien und fragten uns, ob wir die Situationen schaffen würden. Unsere Antwort lautete: ja.

Es ist das beste Ja, das wir je ausgesprochen haben. Aber auch das naivste. Denn das Leben mit Lenas Behinderung bringt uns immer wieder an unsere Grenzen. Dabei ist es weniger die Erkrankung, die uns im Weg steht. Es sind die kräftezehrenden Bürokratieprozesse um Sozialleistungen, die Lena zustehen. Die nervenaufreibenden Kämpfe um Hilfsmittel und Therapien, die sie benötigt. Die verletzenden Kommentare von Menschen, die nicht verstehen, dass für eine bessere Inklusion alle mithelfen können.

Der bisweilen frustrierende Alltag in einer viel zu wenig barrierefreien Gesellschaft macht Lena manchmal traurig. Menschen, die uns und Lena ins Gesicht sagen, dass wir „lieber dankbar für all die Sozialleistungen sein sollten, statt übertrieben Inklusion zu fordern”, verletzen und schockieren uns. 

Nach Lena kam ein weiteres Familienmitglied dazu 

Und doch ist es Lena, die unsere Tage dann wieder hell macht: wenn sie lacht, Witze erzählt und sich in ihrem E-Rolli im Kreis dreht. Wenn sie ein Lied vorsingt, das sie für ihre Assistenzhündin Ypsi gedichtet hat. Wenn sie stur die spastischen Arme verschränkt und für ihre Meinung einsteht.  

Unsere Tochter Lena ist lebensfroh, eloquent und intelligent. Sie ist willensstark, sensibel und empathisch. Sie zeigt uns jeden Tag, wie viel man schaffen kann, wenn man an sich glaubt – und wenn andere an einen glauben. Wenn man ein Leben voller Liebe hat. 

Mehr Liebe, mehr Gefühle und mehr Herausforderungen gibt es in meinem Buch „Wir wollten Lena“. Es ist im Frühjahr im Bonifatius Verlag erschienen und überall dort erhältlich, wo es Bücher gibt.