Washington. Nach einem Stromschlag verlor Aaron James Nase, Mund und ein Auge. Nun ist Ärzten das Unmögliche gelungen – und er kann wieder sehen.

Keine Nase. Kein Mund. Kein Kinn. Links nur noch eine tiefe Augenhöhle. Aaron James mied monatelang jeden Spiegel wie der Teufel das Weihwasser. Heute kann der 46-jährige Starkstromtechniker aus Hot Springs im US-Bundesstaat Arkansas, der vor zwei Jahren bei Reparaturarbeiten schwerste Verletzungen erlitt, nicht genug von sich und seinem neuen Gesicht sehen. „Noch nicht mit beiden Augen“, sagt Dr. Eduardo Rodriguez von der New Yorker Klink NYU Langone, „aber das kann noch kommen.“

Denn Rodriguez und einem 140-köpfigen Spezialisten-Team aus Ärzten, Assistenten und Intensiv-Schwestern ist ein weltweit bisher einmaliger medizinischer Durchbruch gelungen. Im Laufe einer 21-stündigen Operation verpflanzten die Chirurgen nicht nur weite Teile eines Spendergesichts bei James. Sie setzten dem Familienvater auch einen kompletten Augapfel ein. Das ist bald sechs Monate her. In dieser Woche präsentierte sich der Ausnahme-Patient zum ersten Mal der Öffentlichkeit. „Ich will keine Maske mehr tragen, ich will, dass jeder mein Gesicht sehen kann.“

USA: Ärzte werden durch Berichte auf verletzten James aufmerksam

Mit dem Ausgang konnte Meagan James nicht rechnen, als sie im Juni 2021 den Anruf bekam, dass ihr Mann 300 Kilometer entfernt in Tulsa/Oklahoma im Krankenhaus liegt. „Das Einzige, was wir Ihnen versprechen können, ist, dass er nicht stirbt, bevor Sie hier sind.“ James, ein erfahrener Nationalgardist, der in Kuwait und Irak im Einsatz war, war bei der klassischen Arbeit an eine 7000-Volt-Leitung geraten.

Er überstand die vielen lebensrettenden Operationen, die nötig wurden, um Schlaganfälle, Nierenversagen und schwerste Verbrennungen zu behandeln. Der linke Arm musste amputiert werden. Der Heilungsprozess, berichteten Ehefrau und Tochter Allie in US-Medien, war oft die „reine Qual“. Über Monate konnte Aaron James nur Flüssig-Nahrung durch einen Strohhalm zu sich nehmen. Zur Atmung wurde ihm ein Schlauch gelegt.

Mit Geduld und viel familiärer Liebe stabilisierte sich James‘ Zustand. Sein Fall sprach sich herum – bis nach New York. Dr. Eduardo Rodriguez, der bereits vier Gesichts-Transplantationen leitete, fuhr persönlich nach Arkansas, um den potenziellen Patienten in seinem unmittelbaren Umfeld zu erleben.

Mehr als 100 medizinische Fachkräfte waren an der Augentransplantation beteiligt.
Mehr als 100 medizinische Fachkräfte waren an der Augentransplantation beteiligt. © picture alliance / Westend61 | Manfred Weis

Spender-Auge hätte grausame Schmerzen auslösen können

Auf der Couch im Wohnzimmer der Familie konnte er sich davon überzeugen, dass die „Unterstützung“ gegeben ist, die die anstehende Riesen-Operation erfordern würde. Rodriguez nennt James rückblickend den „perfekten Patienten“. Weil seine „Willenskraft und die Bereitschaft, sich auf ein Experiment mit ungewissem Ausgang einzulassen, unbegrenzt war“. James sagte den Ärzten: „Selbst wenn ich am Ende nicht wieder sehen kann, könnt ihr bei der Operation Dinge lernen, die dem nächsten Patienten helfen werden.“

Rodriguez klärte Aaron James darüber auf, dass das Spender-Auge vom Körper abgestoßen werden oder grausame Schmerzen auslösen könnte. Beides blieb aus. Im Gegenteil.

Chirurgie: 45 Gesichtstransplantationen gab es weltweit bislang

Die Netzhaut ist laut Ärzteteam heute gut durchblutet, der Augapfel aktiv. Offenbar auch, weil während des komplizierten Eingriffs Stammzellen aus dem Rückenmark des Spenders direkt in den Sehnerv James‘ injiziert wurden. Nun gelte es abzuwarten, ob das neue Auge über den Sehnerv die entsprechenden Signale an das Gehirn von James senden wird und der Patient schrittweise sein komplettes Sehvermögen wiedererlangen kann.

Aber selbst, wenn nicht. „Allein die Tatsache, dass wir die erste erfolgreiche Ganzaugentransplantation mit einem Gesicht durchgeführt haben, ist eine enorme Leistung, die viele lange für unmöglich gehalten haben“, sagte Dr. Rodriguez in einer Video-Konferenz mit Journalisten, „wir haben einen großen Schritt nach vorn gemacht und den Weg für das nächste Kapitel der Wiederherstellung des Sehvermögens geebnet. Dieser Erfolg zeigt, dass wir in der Lage sind, auch die schwierigsten Herausforderungen anzunehmen und kontinuierliche Fortschritte auf dem Gebiet der Transplantation und darüber hinaus zu erzielen.“ Hintergrund: Weltweit wurden bisher 45 Gesichtstransplantation durchgeführt – aber noch nie inklusive eines kompletten Auges.