Düsseldorf. 92-jährige Holocaust-Überlebende hielt Vorlesung. Als Gastprofessorin folgt sie auf Tote-Hosen-Star Campino. Warum sie gern nach Düsseldorf kommt.
Ihre Biografie hat sie mittlerweile mit einem Fragezeichen versehen. Vor zwölf Jahren noch fühlte sich Charlotte Knobloch „In Deutschland angekommen“. Für ihre Vorlesung an der Heinrich-Heine-Universität formuliert sie diese Ankunft mit einem Fragezeichen.
Der wieder aufflackernde Antisemitismus im Land macht die 92-Jährige unsicher, ob es wirklich eine Ankunft, vor allem aber eine Heimat gibt für jüdische Menschen in Deutschland. Gleichwohl kommt sie guter Dinge an die Hochschule. „Ich habe mich sehr geehrt gefühlt, als ich die Einladung erhielt“, erzählt sie.
Einladung kam just zum Überfall der Hamas
Obwohl – oder gerade weil – der Brief von Hochschulrektorin Prof. Anja Steinbeck ihr nur wenige Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ins Haus flatterte, als die Hamas Israel überfiel. Die Entscheidung, der ehemaligen Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland die Honorarprofessur anzutragen, war kurz zuvor gefallen.
Doch just um den Tag des Überfalls herum ging die Einladung heraus. Im Angesicht des Schreckens um einige handschriftliche Zeilen ergänzt, so Rektorin Anja Steinbeck. Es waren wohl die richtigen Worte, denn Charlotte Knobloch kommt zwei Tage nach ihrem 92. Geburtstags gut gelaunt in den Hörsaal.
Sie verbinde mit Düsseldorf vor allem Paul Spiegel, ihren Vorgänger im Amt als Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland. „Es war eine Freude und Ehre, mit Paul Spiegel zusammenzuarbeiten“, so Knobloch. Er habe gern gute Witze erzählt und so die Liebe zu Düsseldorf und die Freude an dieser Stadt vermittelt.
Und in jüngeren Jahren, gesteht sie, hat sie mit etwas Wehmut verfolgt, wie die Modeszene aus ihrer Heimatstadt München nach Düsseldorf abwanderte. Und habe auch deswegen immer mal wieder die Stadt am Rhein besucht.
92-Jährige tritt in Campinos Fußstapfen
Charlotte Knobloch tritt als Heinrich Heine Professorin die direkte Nachfolge von Tote-Hosen-Sänger Campino an, der die Professur im Vorjahr innehatte und just mit dem Staatspreis ausgezeichnet wurde. Weitere Prominente, die die vom Land NRW seit 1988 finanzierte Gastprofessur innehaben, waren unter anderem Juli Zeh, Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Ulrich Wickert, Joschka Fischer und Wolf Biermann und Klaus-Maria Brandauer.
Ihre zweite Vorlesung als Gastprofessorin wird Charlotte Knobloch am 11. Februar 2025 halten. Knobloch, am 29. Oktober 1937 in München geboren, überlebte den Holocaust als Kind unter falschem Namen bei einer Hausangestellten der Familie. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und hatte zahlreiche europäische und internationale Ämter in jüdischen Organisationen inne. 2021 hielt sie im Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2021 mit dem legendären Satz „Vor Ihnen steht eine stolze Deutsche.“.
Nun kommt sie also als Honorarprofessorin der Heinrich-Heine-Universität, die dessen Werte Heines, Demokratie, Toleranz, Weltoffenheit, vermitteln und verstärken soll, so Rektorin Steinbach. Knoblochs Reaktion auf die Anfrage war daher sofort: „Ja, das machst du!“ Und so tritt die zierliche 92-Jährige vorsichtig auf die Bühne des großen Hörsaals, ihren Hund Ruben, der sie noch zur Pressekonferenz mitgebracht hat, lässt sie draußen.
Doch sobald sie ihr Manuskript vor sich hat, erzählt sie mit großer Bestimmtheit und lebendiger Intonation ihre Lebensgeschichte, die auch eine politische Biografie ist. „Die Bundesrepublik ist das Beste, was die Ideen von Deutschland je hervorgebracht haben“, sagt die überzeugte Patriotin, die diese Heimatliebe von ihrem Vater geerbt hat. „Er war nach dem Holocaust der einzige jüdische Mensch, der sich freiwillig in München aufhielt.“
Liebe zum Vater, Liebe zum Vaterland
Aus der Liebe zum Vater wurde auch bei ihr eine Liebe zum Vaterland. Sie schildert, wie über die Jahrzehnte, von der ersten wiedereröffneten Nachkriegssynagoge bis zur Eröffnung des neuen jüdischen Kulturzentrums 2006 in München das Vertrauen der jüdischen Menschen in dieses Land wieder gewachsen ist, trotz aller Attacken, die es auch schon vor der Jahrtausendwende gab.
Seitdem allerdings, so konstatiert Knobloch, hat der Antisemitismus, hat die Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland wieder zugenommen. Israelhass gehöre scheinbar zur muslimischen Sozialisierung auch in Deutschland, hinzu komme ein Antisemitismus von links, auf der anderen Seite fordere die AfD als rechtsextreme Kaderpartei eine Kehrtwende in der Erinnerungskultur.
Als vierte Bedrohung mache sich in weiten Teilen der Bevölkerung Gleichgültigkeit breit. „Unbeschwert leben kann ein Jude hier nur, wenn er sich nicht als solcher erkennbar zeigt“, so Knobloch. Sie könne niemanden dazu raten, sichtbar Kippa oder Davidstern zu tragen. „Wir müssen uns in unseren schönen neuen Synagogen verbarrikadieren, unsere Kinder lernen hinter Panzerglas.“ Wenn sich Juden in Deutschland fragten „Gehen oder bleiben?“ habe sie keine Antwort. „Ich verstehe beides.“
„Wer das Volk ist, entscheidet nicht, wer am lautesten schreit.“
Aber auch, wenn Fragezeichen wieder über allem schwebten: „Ich will mich nicht infrage stellen, ob es richtig war, die Koffer auszupacken.“ Sie wolle, dass Deutschland eine offene Heimat für alle sei. „Wer das Volk ist und wer nicht, entscheiden nicht die, die am lautesten schreien.“
Sie forderte ihre Zuhörerinnen und Zuhörer auf, Mut zu zeigen. „Damit aus dem Fragezeichen wieder ein Ausrufezeichen wird.“ Dann, so Knobloch, können wir wieder stolz sein auf unser Land. Das Publikum, eher Honoratioren und Professoren als Studierende, dankte Charlotte Knobloch für Analyse und Appell mit stehenden Ovationen an der Heinrich-Heine-Uni, die auch selbst nicht vor antisemitischen Attacken gefeit ist.