An Rhein und Ruhr. Abellio kommt nicht in Fahrt, Baustellen behindern Bahnen, Corona lässt die Kunden wegbleiben. Wir interviewten Ronald Lünser zur Lage des VRR.
Die S-Bahn Oberhausen-Essen-Hattingen fiel wochenlang aus, genauso aus wie der RE von Wesel nach Wuppertal: beim VRR läuft es nicht rund seit dem Fahrplanwechsel im Dezember, der eigentlich alles besser machen sollte.
Der Lokführermangel bei den Eisenbahnunternehmen wird sich nach Ansicht von Ronald Lünser, Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr, in den nächsten Jahren fortsetzen. Bei Abellio fallen bis heute auf etlichen Linien Züge aus, auch wenn seit wenigen Tagen der Regionalexpress von Wesel über Oberhausen und Essen nach Wuppertal nach zweimonatiger Zwangspause wieder fährt. Stephan Hermsen sprach mit VRR-Geschäftsführer Ronald Lünser über die vielen Baustellen des Verkehrsverbundes Rhein Ruhr. Lünser, selbst bis 2018 Vorstand bei Abellio NRW, musste vor einigen Wochen seinen alten Arbeitgeber abmahnen.
Über welche Krise wollen wir zuerst reden? Abellio, Baustellen oder Corona?
Was den Nahverkehr auf der Schiene anbelangt, haben wir aufgrund von zum Teil erheblichen Qualitätsmängeln schon 2019 nahezu zeitgleich Abmahnungen gegen drei Eisenbahnverkehrsunternehmen aussprechen müssen. Und dann sahen wir uns gezwungen, im Jahresverlauf, mit der Kündigung eines Verkehrsvertrags noch vor der eigentlichen Betriebsaufnahme, vor eine weitere krisenähnliche Situation mit Notvergabe und neuer Ausschreibung der S-Bahn-Leistungen S1 und S4, gestellt.
Mit der Corona-Krise ist allerdings der gesamte öffentliche Nahverkehr betroffen – und damit auch die Kommunen. Deshalb bin ich auch ganz dankbar, dass die Landesregierung den Nahverkehr finanziell unterstützt und jetzt den Rettungsschirm aus einer Kombination von Bundes- und Landesmitteln beschlossen hat. Vor Corona kamen wir aus einer Phase des Leistungsaufwuchses, wir haben Angebote geschaffen und erweitert, zuletzt noch im Dezember 2019 mit zusätzlichen 2 Mio. Zugkilometern im S-Bahn-System. Und jetzt mit Corona stellt sich plötzlich eine ganz andere Frage, nämlich wie können wir das bestehende Angebot erhalten und weiterhin ausbauen, wenn die Fahrgäste auf Dauer wegbleiben und diese Einnahmen dem ÖPNV zur Finanzierung fehlen.
Glauben Sie, die Fahrgäste werden zurückkommen?
Ich bin mir sicher, dass wir zum Fahrgastaufkommen der Vor-Corona-Zeit sicherlich so schnell nicht zurückkommen werden. Das liegt an mehreren Effekten. Zum einen der Erkenntnis, dass Home-Office und die neuen Formen der Arbeitsorganisation gut funktionieren, das wird sich sicherlich auch dauerhaft bemerkbar machen. Ein weiterer Effekt ist der wahrnehmbare Umstieg aufs Fahrrad, den viele jetzt gerade auch in der Sommerzeit vollzogen haben und das E-Bike unterstützt diesen Trend. Und es zeichnet sich ebenso ab, dass sich ÖPNV-Nutzer nun doch wieder fürs Auto entscheiden.
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Das wollten wir vor der Corona-Zeit mit den Themen der Verkehrswende und des Umweltverbundes genau ins Umgekehrte drehen, nämlich die Bereitschaft, den ÖPNV mehr zu nutzen und den Individualverkehr mit dem Auto zurückzustellen. Ich kann heute nicht genau sagen, ob 90 oder 95 Prozent der Vor-Corona-Zahlen das künftige Maximum sein werden.
Was wollen Sie tun?
Zunächst wollen und können wir unseren treuen Abo-Kunden ein Dankeschön sagen, bspw. mit der Sommerferienaktion des VRR und zum zweiten müssen wir ganz allgemein das Vertrauen der Fahrgäste für das ÖPNV-System zurückgewinnen. Wenn bspw. Angst vor Ansteckung der Grund ist sich vom ÖPNV abzuwenden, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass uns das mit den wirksamen Übertragungsschutz- und Hygienemaßnahmen, die wir mit dem Land, den Eisenbahnverkehrsunternehmen und den kommunalen Verkehrsunternehmen gemeinsam entwickeln, auch gelingen wird.
Die Maskenpflicht muss also bleiben?
Die Alternative, nämlich eine permanente Einhaltung des Sicherheitsabstands von 1,5 Meter, lässt sich im Nahverkehr schon aus kapazitiven Gründen nicht realisieren, dann dürften bspw. in einem Gelenkbus maximal 15 Fahrgäste mitfahren. Insofern muss die Maskenpflicht im ÖPNV unbedingt bleiben und unsere Verkehrsunternehmen sind auch angehalten, die Maskenpflicht zu kontrollieren und Fahrgäste bei Nichtbeachtung notfalls von der Beförderung auszuschließen; gegebenenfalls auch das Fahrzeug anzuhalten und das Ordnungsamt oder die Polizei hinzu zu rufen.
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Dann wird nach meiner Beobachtung kein Bus und keine Straßenbahn mehr den Fahrplan einhalten.
Das ist die größte Befürchtung, wenn viele Fahrgäste die Tragepflicht nicht ernstnehmen. Aber was ist das höhere Gut? Die Pünktlichkeit im Fahrplan oder der Gesundheitsschutz? Es ist völlig klar, die Schutzmaßnahmen haben absoluten Vorrang. Auch wenn es immer diejenigen Fahrgäste geben wird, welche sich prinzipiell dagegenstellen, so wird es nach unserer Überzeugung nur ein ganz geringer Teil sein. Und im Übrigen gilt im ÖPNV auch das Rauchverbot und auch hierzu erleben wir immer mal wieder, dass sich Fahrgäste nicht daran halten (wollen), die dann konsequent von der weiteren Beförderung ausgeschlossen werden.
Fürs subjektive Sicherheitsgefühl ist es wichtig, den Eindruck zu haben, ich habe Platz in Bus und Bahn. Deswegen muss es Sie doch besonders hart getroffen haben, dass ein Unternehmen wie Abellio von jetzt auf gleich auf vielen Linien Anfang Mai den Verkehr einstellte.
Was mich erschüttert hat, war die Kurzfristigkeit, mit der Abellio uns bekannt gab, dass sie nicht fahren können. Denn von Mitte März bis Ende April haben wir uns alle 48 Stunden mit dem Land, den Aufgabenträgern und allen Eisenbahnverkehrsunternehmen abgestimmt und die allgemeine Betriebslage besprochen. Von der Entwicklung im eigenen Hause wurde Abellio in Teilen wohl auch selbst überrascht.
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Uns ist am 30. April mitgeteilt worden, dass Abellio ab 1. Mai auf einigen Linien nicht mehr fahren kann. Als wir nach Gesprächen mit Abellio ein klares Bild hatten, war die Frage, wie stellen wir jetzt ein ausreichendes Grundangebot sicher? Denn was Lokführer angeht, befinden sich alle Unternehmen in einer permanenten Mangelverwaltung. Leitgedanke war, erstmal ein Grundangebot in allen Bestandsnetzen zu sichern. Deswegen ist auch der neue Ast der S 9 von Gladbeck nach Recklinghausen erst einmal nicht in Betrieb gegangen.
Abellio hat argumentiert: Da es da noch nie Schienenverkehr gab, brauchen wir auch keinen Schienenersatzverkehr.
Die Aussage halte ich für falsch. Denn der Punkt ist, auf der Strecke braucht der Ersatzbus doppelt so viel Fahrzeit wie der geplante Zug. Und entscheidend war dabei auch, dass es mit Umstiegen in bereits bestehende Verkehrsmittel schnellere Alternativen gibt. Dennoch haben wir jetzt, auch auf vielfachem Wunsch aus der Region seit dem 1. Juli einen Ersatzverkehr mit Bussen und spätestens ab 15. September fahren dann dort die Abellio-Züge.
Auffällig war, dass Abellio auf der Linie Bochum-Gelsenkirchen, die nicht Teil der Abmahnung war, jetzt den Fahrplan reduziert hat. Mutmaßlich, um Personal für die abgemahnten Strecken zu gewinnen. Wie finden Sie das?
Weil sich die kurze Strecke von Bochum nach Gelsenkirchen auch innerstädtisch gut mit Bus und Straßenbahn bewältigen lässt, würde ich bei einem Mangel an Triebfahrzeugführern rein verkehrlich auch eine ähnliche Priorität setzen.
Hat Abellio das mit Ihnen abgesprochen?
Die Priorisierung ist eine Überlegung von Abellio, wird uns aber zur Zustimmung vorgelegt. Die Argumente konnten wir durchaus nachvollziehen.
Abellio hat ja zudem einen Subunternehmer mit sagen wir mal nostalgischen Zügen eingesetzt. Warum hat man den nicht weiter eingespannt, um z. B. auch den Regionalexpress Wesel-Wuppertal wieder ans Laufen zu kriegen?
Ich bin erstmal dankbar, dass die S3 jetzt seit Mitte Juni wieder stabil läuft. Wir haben den Einsatz von den alten Zügen zustimmend zur Kenntnis genommen. Problem ist aber: die Züge sind für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste kaum geeignet, da gab es anfangs massive Beschwerden. Jetzt läuft auch wieder der RE49.
Aber wie konnte es geschehen, dass der einstige Musterknabe Abellio plötzlich so einbrach?
Ich bin auch mit Forderung konfrontiert worden, Abellio den Verkehrsvertrag zu entziehen. Nur stellt sich die Frage: Wer fährt dann? Ich finde es wichtig, der Frage nach den Ursachen nachzugehen. Warum kommt ein Unternehmen, dass über Jahre hinweg gute Leistungen gebracht hat, plötzlich ins Straucheln? Abellio hat das sehr offengelegt, es gab diverse Gründe.
Ein Thema war, dass Triebfahrzeugführer, die frisch aus der Ausbildung kamen, sich im Dienst nicht als dauerhaft tauglich erwiesen haben. Und wenn das sicherheitsrelevant ist, ist ein Unternehmen gehalten entsprechende personelle Konsequenzen zu ziehen.
Die Corona-Krise hat zu einem abrupten Stopp der gesamten Ausbildung geführt und zudem auch die Kapazitäten bei den Ausbildungsfahrten auf der Strecke verringert. Der dritte Punkt: Die Triebfahrzeugführer müssen regelmäßig fortgebildet werden und das musste auch ausfallen, infolgedessen einige vorübergehend ihre Lizenz verloren. Und dann ging auch noch die Krankheitskurve nach oben und auf einmal hat man 20-30 Lokführer weniger im Betrieb.
Ist das der Grund, warum man beim RE1 gesagt hat: Abellio fährt den erst einmal nur zur Hälfte?
Abellio hat sehr früh entsprechende Vereinbarungen mit DB Regio treffen können und sich zunächst auf die S-Bahnen konzentriert. Ab Dezember wird Abellio die Linie dann komplett fahren. Die Züge sind da, jetzt fahren bei der Hälfte der Züge noch die alten Doppelstockzüge, die zehn Prozent weniger Sitzplätze haben. Dafür muss Abellio auch Strafen zahlen und weil sie auch über lange Zeit Qualitätsführer waren, trifft die das jetzt schon hart.
Vor zehn Jahren war es anders rum: die neuen Unternehmen gingen gut gerüstet an den Start, aber das Altunternehmen brach allmählich zusammen, weil die Lokführer Resturlaub nahmen und zum neuen Unternehmen wechselten. Hat sich das geändert?
Das ist ein branchenweites Phänomen: Die Verkehre nehmen auch im Personen- und Güterverkehr kontinuierlich zu. Auch im VRR haben wir im Dezember 2019 zwei Millionen Kilometer mehr Schienenverkehr bestellt. Neu ausgestaltete Tarifverträge gewähren den Triebfahrzeugführern mehr Freizeitanteile. Hinzu kommt der demografische Wandel. Insofern fehlt Personal im Betrieb bei steigenden Betriebsleistungen und das in der gesamten Branche.
Und das Problem wird wiederkommen, weil ein Großteil der Lokführer Mitte 50 ist und spätestens in zehn Jahren in Rente geht. Deswegen schreiben alle Verkehrsverbünde in NRW in alle Verträge Ausbildungsquoten hinein, die es zu erfüllen gilt. Erstmals haben wir das jetzt bei der Neuausschreibung für die Linien S1 und S4 getan
.…und recht teuer bezahlt. Es heißt, Notvergabe und Neuausschreibung haben den VRR rund 200 Millionen Euro extra gekostet. Geld, das woanders fehlt.
Die Zahl ist falsch, aber es liegt in der Natur der Sache, dass eine Notvergabe teurer ist. Die Kostensteigerungen sind bei uns im Mittelbedarf entsprechend eingerechnet.
Wenn Unternehmen ihre Leistungen nicht erbringen, werden Strafzahlungen, die Pönale, fällig. Ist geplant, die Fahrgäste für die Minderleistung zu entschädigen?Das ist zunächst mal Aufgabe des Unternehmens, an dieser Stelle für Kulanz zu sorgen. Grundsätzlich fließen Pönale Zahlungen in das System zurück und wir nutzen das für mehr Leistungen im Service und auf der Schiene. Da ist die Bandbreite sehr groß und reicht von Sonderzügen zu Karneval, Fußball oder bei besonderen Ereignissen bis hin zu mehr Servicepersonal in den Zügen und bessere Informationssysteme für Fahrgäste.
Gummibärchen im Zug zu verteilen, entschädigt die Fahrgäste ja nicht für die verlorene Lebenszeit. Der RE 49 ist ja fast ein halbes Jahr kaum mal ordentlich gefahren.
Das hat alle kalt erwischt, viele Unternehmen haben gedacht, das geht schon irgendwie. Aber wir müssen in der Branche insgesamt erheblich mehr investieren und massiv rekrutieren und den Beruf des Lokführers wieder attraktiv machen, damit das langfristig besser läuft. Ich bin auch überzeugt davon, dass wir nach der Corona-Krise eine deutlich größere Nachfrage haben werden, was die Ausbildung zum Lokführer angeht.
Nach Corona wird es für die Kommunen vermutlich aber auch weitaus schwerer, die Verkehrsunternehmen zu finanzieren. Meinen Sie, es wird wirklich weitere Netzausbauten geben?
Wenn ich das nicht denken würde, hätte ich meinen Job verfehlt. Ziel der EU und der Bundesregierung ist es, bis 2050 den kompletten Nahverkehr zu dekarbonisieren. Das geht aber nur mit deutlichen Investitionen in die Infrastruktur, in die Fahrzeugkapazität und in die Ausbildung der Personale. Das wird sicherlich schwierig. Allein der Ausbau der Infrastruktur wird mindestens zwei Jahrzehnte dauern – wie jetzt bspw. der Knoten Köln, beim RRX, entlang der Betuwe-Linie oder der Knoten Düsseldorf.
Nun sind aber auch andere Knoten wie z. B. Essen überlastet. Man hat alles reingequetscht, was die Trassen hergaben, wenn jetzt ein Zug Verspätung hat, kippt alles.
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Richtig. Und ich bin sehr dankbar, dass es bei Bund und Land eine breite Zustimmung zum Deutschlandtakt gibt. Denn damit wird auch der Denkansatz erstmals umgedreht: Nicht gucken, was lässt sich auf dem bestehenden Netz noch fahren, sondern erst sagen, was man fahren will und danach das Netz und die Knoten ausbauen. Dazu sind wir auf unterschiedlichen Ebenen unterwegs, das zu unterstützen. Wir haben bspw. 16 Maßnahmen im Programm „robustes Netz“, das mit vergleichsweise überschaubaren Maßnahmen wie zusätzliche Weichen oder Signalen Engpässe beseitigt.
Dazu wird jetzt eine zweite Stufe mit 18 weiteren Maßnahmen vereinbart. Und ich würde mich freuen, wenn wir auch die Linie RE 10 zwischen Kleve und Krefeld stabilisieren und dort die alte Signal- und Stellwerkstechnik ersetzen können. Denn mit 23- bis 25.000 Fahrgästen täglich, ist das eine der wichtigsten Zubringeräste für den RRX. Von Düsseldorf über Duisburg nach Dortmund fährt das Netz mit 140 Prozent Auslastung – und dazu mit Baustellen unter dem rollenden Rad. Unter diesen Rahmenbedingungen sind unsere Pünktlichkeitswerte zwischen 85 und 95% aller Ehren wert. Natürlich nutzt das dem einzelnen Fahrgast nichts, der am Bahnsteig auf den verspäteten Zug wartet. Aber die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zu beseitigen, braucht leider weitere Jahrzehnte.