An Rhein und Ruhr. Experte Dr. Voshaar plädiert dafür, mit Gelassenheit und Vorsicht in den Winter zu gehen. Hospitalisierungsrate sei als Kennziffer zu unpräzise.

Mit dem Ende der Impfzentren beginnt eine neue Phase der Pandemie. Redakteur Dennis Freikamp hat mit Dr. Thomas Voshaar vom Bethanien-Krankenhaus in Moers über die aktuelle Corona-Lage gesprochen. Der Lungenspezialist, der auch seit vielen Jahren Vorsitzender des Verbandes der Lungenkliniken in Deutschland ist, mahnt zu mehr Gelassenheit.

Wie ist die aktuelle Situation?

Voshaar: Wir stehen an der Schwelle zur Normalität. Ich habe immer gesagt: Wir werden einen Weg finden müssen, mit dem Coronavirus zu leben. Auch jetzt ist das Virus zwar nicht weg, aber die Rahmenbedingungen sind so, dass man immer mehr Normalität zulassen kann. Deshalb sind jetzt die Impfzentren geschlossen und deshalb werden die Maßnahmen Schritt für Schritt zurückgefahren.

Droht eine neue Corona-Welle?

Es wird ganz sicher im Herbst und Winter überall mal ein paar Clusterausbrüche geben. Ich habe den Begriff „Welle“ im Zusammenhang mit der Pandemie für unangebracht gehalten, weil es sich vor allem um regionale Ausbrüche handelt. Gerade jetzt werden dank der hohen Impfquote nur noch vereinzelte Cluster auftreten, zum Beispiel in großen Betrieben oder einzelnen Stadtteilen. Ich bin mir aber sicher, dass wir gut über den Winter kommen werden.

Also würden Sie einen erneuten Lockdown ausschließen?

Absolut - das wäre ja verrückt. Die Wissenschaft ist sich einig, dass es sich um Cluster und keine Wellen handelt. Deshalb halte ich gesamtgesellschaftliche Maßnahmen nicht für zielführend. Es gibt keinen Grund, Horrorszenarien an die Wand zu malen. Ich finde auch die Bezeichnung einer „Pandemie der Ungeimpften“ unangemessen. Jeder weiß, dass er oder sie sich impfen lassen kann und das auch tun sollte. Aber am Ende wird es trotzdem Leute geben, die eine Impfung ablehnen. Den Ungeimpften muss jedoch klar sein, dass wir sie nicht ewig schützen können, indem wir die komplette Gesellschaft einschränken.

Wie realistisch ist das Erreichen der Herdenimmunität?

Der Begriff Herdenimmunität ist schlecht definiert und bedeutet bei jedem Virus etwas anderes. Den sollten wir in diesem Zusammenhang nicht benutzen, weil er irreführend ist. Wichtig ist, dass wir inzwischen in der Altersgruppe eine hohe Impfquote haben, wo die Sterblichkeit am höchsten ist. Das ist die Altersklasse der Ü60-Jährigen. Wir können lange über die Impfquote von Kindern und Jugendlichen diskutieren, aber das wichtigste Ziel der Pandemiebekämpfung ist eine hohe Quote in den vulnerablen Gruppen. Dieses Ziel haben wir erreicht. Das sieht man auch an der dramatisch rückläufigen Sterblichkeit.

Wie verändert sich dadurch die Corona-Lage?

Ab dem Moment, als die Ü60-Jährigen flächendeckend geimpft waren, hätten wir sagen können: Wir fahren die Maßnahmen zurück und reagieren nur noch regional auf einzelne Cluster. Unser Hauptanliegen ist doch, dass möglichst wenige Menschen sterben. Also wurde alles getan, um die vulnerablen Gruppen zu schützen. Ich finde es schon bemerkenswert, dass wir uns immer wieder neue Ziele setzen: Erst wollten wir junge Erwachsene impfen, dann auch Kinder, jetzt reden wir von Kleinkindern. Es muss ernsthaft bedacht werden, ob das im Rahmen der Pandemiebekämpfung noch wichtige Ziele sind.

Also ist ausschließlich die Impfquote der Ü60-Jährigen relevant?

Nein, jede Impfung ist hilfreich. Ich will auch nicht sagen, dass wir über die Impffortschritte in einzelnen Altersklassen nicht reden sollten. Aber die Impfquoten der Unter-60-Jährigen dürfen meiner Meinung nach nicht in Zusammenhang gebracht werden mit gesamtgesellschaftlich einschränkenden Maßnahmen.

Wie finden Sie, dass die Inzidenz nicht mehr die zentrale Kennziffer ist?

Das ist ein Weg zur Erkenntnis. Ich bin froh, dass wir wieder zu unserem normalen Menschenverstand zurückkehren. Ich habe schon vor Monaten gesagt, dass die Inzidenzen nicht mehr geeignet sind. Wenn nicht systematisch und einheitlich getestet wird, was sagen mir dann Inzidenzen? Gar nichts. Die Situation ist durch die unregelmäßigen Testungen und die steigenden Impfzahlen mittlerweile so komplex, dass uns die Betrachtung von Inzidenzen nicht weiterhilft.

Worauf kommt es jetzt an?

Zum einen müssen wir uns fragen, in welchen Bereichen Sicherheitsmaßnahmen noch angebracht sind - dass wir zum Beispiel ans Lüften denken und uns nicht zu lange mit großen Gruppen in geschlossenen Räumen aufhalten. Wir können mit einer gewissen Gelassenheit in den Winter gehen, sollten aber weiterhin Umsicht und Vorsicht walten lassen.

Welche Kennziffer ist dabei entscheidend?

Wir müssen bei den Meldezahlen endlich wissen, wer noch krank wird und welche Altersklassen betroffen sind. Infizieren sich nur noch bestimmte Gruppen oder Ungeimpfte? Eigentlich sollte ein Land wie unseres im Stande sein, genau zu erfassen, welche Menschen leicht, mittelschwer oder lebensbedrohlich erkranken. Die unterschiedlichen Krankheitsverläufe müssen den Altersgruppen und dem jeweiligen Impfstatus zugeordnet werden. Dann wissen wir alles, was wir wissen müssen.

Bietet die Hospitalisierungsrate eine solche Möglichkeit?

Die Hospitalisierungsrate ist eine starke Vereinfachung und Verkürzung. Der Wert allein sagt uns überhaupt nichts. Das führt zu Zahlen, mit denen wir wiederum wenig anfangen können. Es macht doch einen Unterschied, ob ich im Krankenhaus vier Tage zur Beobachtung liege oder ob ich auf die Intensivstation verlegt oder sogar beatmet werden muss. Und es macht einen Unterschied, ob die Person jung, über 70, geimpft oder ungeimpft ist. Das alles müssen wir wissen.

Also hätte man sich die Hospitalisierungsrate sparen können?

Natürlich ist es ein Fortschritt, wenn die Politik erkennt, dass die Inzidenzen nicht mehr zielführend sind. Aber wir hätten uns eine viel präzisere Kennziffer als die Hospitalisierungsrate gewünscht - zumal sie komplett willkürlich ist. Wenn ein Krankenhaus viele Betten frei hat, wird ein Patient mit leichten Symptomen auch mal zur Beobachtung aufgenommen. Ist das Krankenhaus ausgelastet, ist viel wahrscheinlicher, dass der gleiche Patient nach Hause geschickt wird. Das hängt immer von der Auslastung ab und variiert von Region zu Region. Und am Ende gucken wir auf die Zahl der hospitalisierten Covid-19-Fälle und leiten davon politische Maßnahmen ab.

Sollte die Maskenpflicht an Schulen aufgehoben werden?

Es ist nach wie vor nicht bewiesen, dass sich jüngere Kinder überhaupt untereinander anstecken können. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass das Virus von Lehrern auf die Schüler übertragen wird. Deshalb und vor dem Hintergrund der steigenden Impfquote wäre ein Ende der Maskenpflicht für Schüler aus meiner Sicht in Ordnung. Eine Maskenpflicht im Freien war übrigens von Anfang an eine Fehlentscheidung. Dort gibt es fast überhaupt keine Infektionen, die sind komplett zu vernachlässigen. Das war eine wissenschaftlich nie zu haltende Maßnahme.

Was halten Sie von einem sogenannten „Freedom“ Day?

Wir bewegen uns zunehmend in Richtung Normalität und werden weiter lernen müssen, wo wir noch Vorsichtsmaßnahmen brauchen. Aber einen bestimmten Tag festzulegen, an dem alle Maßnahmen aufgehoben werden, halte ich für Unsinn. Das ist genauso radikal wie Schwarz-Weiß-Denken. Mit einer gewissen Vorsicht werden wir unsere Freiheiten Schritt für Schritt zurückbekommen. Das wird jetzt kontinuierlich so weitergehen, hoffentlich von Vernunft und gesundem Menschenverstand geleitet.

>>> Stellungnahme des NRW-Gesundheitsministeriums

Die NRZ-Redaktion hat das NRW-Gesundheitsministerium (Mags) im Anschluss an das Interview um eine Einordnung der Thesen von Lungenspezialist Dr. Thomas Voshaar gebeten. Die schriftliche Antwort:

Stimmen Sie Herrn Voshaar zu, dass es rückblickend ratsamer gewesen wäre, bereits nach der Impfung der Ü60-Jährigen die flächendeckenden Maßnahmen zurückzufahren?

Mags: Auch wenn das Alter mit Abstand der entscheidende Faktor mit der höchsten Risikoerhöhung für schwere und tödliche Verläufe ist, haben auch altersunabhängige Faktoren Einfluss auf den Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit SARS-CoV-2. Der Lagebericht des RKI zeigt, dass für die Altersgruppe von 35 bis 39 Jahren derzeit die meisten Hospitalisierungen verzeichnet werden. In den NRW-Krankenhäuser sind knapp die Hälfte derjenigen, die wegen COVID-19 auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, im Alter zwischen 19 und 60 Jahren. Zudem gibt es Menschen, die sich aufgrund von Vorerkrankungen nicht gegen SARS-CoV-2 impfen lassen können. Auch diese Personen gilt es zu schützen.

Halten Sie Herrn Voshaars Empfehlung, man müsse gezielt zwischen leicht, mittelschwer und lebensbedrohlich erkrankt unterscheiden und diese Fälle nach Altersgruppen und Impfstatus aufteilen, für sinnvoll? Wäre ein solch präzises Vorgehen in der Praxis umsetzbar?

Die Landesregierung und das RKI beobachten den Verlauf der SARS-CoV-2 Infektionen sehr gezielt und im Zusammenhang mit verschiedenen relevanten Parametern, wie beispielsweise der Altersverteilung. Die Differenzierung zwischen infiziert, hospitalisiert, aufgenommen auf der Intensivstation oder beatmet liefert einen guten Einblick in die Schwere des Verlaufs.

Was sagen Sie zu der Aussage, eine Maskenpflicht im Freien sei eine wissenschaftlich nie zu haltende Maßnahme gewesen? Und wie ist der aktuelle Stand beim Thema Aufhebung der Maskenpflicht an Schulen?

Eine Neuregelung der Maskenpflicht an Schulen wird derzeit ressortübergreifend diskutiert. Das Ministerium für Schule und Bildung wird in Kürze darüber informieren.