Geldern. Kurt Knickmeier hat drei Menschen umgebracht und sitzt seit 36 Jahren im Gefängnis. Jetzt klagt er, weil er todbringende Medikamente haben will.
Die Justizvollzugsanstalt in Geldern ist ein Ungetüm aus Beton, Ende der siebziger Jahre gebaut, eine flache Trutzburg, die sich in die niederrheinische Landschaft kauert. Auf einer der Wände prangt in großen Lettern das Wort „Sehnsucht“. Fast 500 Menschen sind hier inhaftiert, viele schwere Jungs, Langzeithäftlinge. Einer von ihnen ist Kurt Knickmeier. Er will Rechtsgeschichte schreiben. Knickmeier, zu zweimal lebenslänglich verurteilt, möchte von der Anstaltsleitung Medikamente bekommen, um sich das Leben zu nehmen, wenn er keine Chance hat, in absehbarer Zeit in Freiheit zu gelangen.
Suizide sind in Gefängnissen keine Seltenheit. Im vergangenen Jahr nahmen sich in NRW 23 Häftlinge das Leben. Im Dezember vor einem Jahr starb im Haftkrankenhaus Fröndenberg ein Mann, der sich zu Tode gehungert hatte. Sein Sterbefasten begann im Gefängnis in Aachen. Die Bediensteten dort hatten nicht eingegriffen. Landesjustizminister Peter Biesenbach rechtfertigte das mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar 2020. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, heißt es in den Leitsätzen zu diesem Urteil.
Bereits als junger Mann in die Kriminalität gerutscht
Auf dieses Urteil beruft sich auch der Gefangene Knickmeier. In den Leitsätzen steht auch: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
Kurt Knickmeier, 59, sitzt seit 36 Jahren ununterbrochen im Gefängnis. Der Mann, der in dem schmucklosen Besucherzimmer Platz nimmt, um zu erzählen, warum er nötigenfalls Medikamente haben will, um seinem Leben ein Ende zu setzen, hat ein schmales Gesicht, graue, kurze Haare, grau-blaue, wache Augen hinter einem Kassengestell. Seine feingliedrigen Finger spielen mit der Corona-Maske, während er von seinem Leben erzählt. Von den Taten, die ihn hierhergebracht haben.
Seine ersten Kindheitserinnerungen sind die von der Mutter, wie sie gefesselt am Küchentisch im Elternhaus in Welstorf, einem Kaff bei Lemgo, sitzt und wie der Vater ihr die Kniekehlen durchschneidet, damit sie nicht wegläuft. Er landet für sieben Jahre in einem evangelischen Pflegeheim in Höxter, kehrt zur Mutter zurück, der Stiefvater ist ein gewalttätiger Alkoholiker. Die Schule verlässt er ohne Abschluss in der achten Klasse, ein halber Analphabet. Die Maurerlehrer bricht er ab. Er ist voller Wut. „Ich habe mich als Ausgestoßener gefühlt und mich als Krimineller identifiziert.“ Seine Verbrecher-Karriere beginnt mit Einbrüchen.
1985 ermordet er mit einem Partner in Herford drei Menschen
Mit 18 Jahren wird er das erste Mal verurteilt. 33 Monate im Jugendgefängnis in Herford, die er als 18-Jähriger bis zum letzten Tag absitzen muss, weil er so renitent ist. Danach noch einmal 14 Monate.
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Er lernt Manfred H. kennen, die beiden wollen was Großes durchziehen, besorgen sich Waffen. „Bedauerlicherweise haben wir die auch benutzt.“ Am 26. August 1985 ermorden die beiden bei einem Raubüberfall auf einem Reiterhof bei Herford drei Menschen. Knickmeier setzt sich nach Spanien ab, wird festgenommen und nach knapp einem Jahr nach Deutschland ausgeliefert. Er erhält 1987 eine lebenslange Haftstrafe, wird im Gefängnis in Werl eingesperrt.
„Ich war Mitte 20 und habe den Knast als Endstation gesehen. In Werl habe ich Lebenslängliche und Sicherungsverwahrte kennengelernt, die nur noch vor sich hinvegetiert haben. Da ist meine Frustrationsschwelle noch mal gesunken.“ In Werl sitzt auch der Schwerverbrecher Michael Heckhoff ein.
1992 nimmt er im Gefängnis in Werl Geiseln
Am 30. Juni 1992 nehmen die beiden in der Krankenstation des Gefängnisses sechs Menschen als Geiseln. Sie fordern eine Million D-Mark und einen Fluchtwagen. „Uns war klar, dass das wahrscheinlich im Wahnsinn enden wird. Der finale Rettungsschuss wäre das Angenehmste gewesen. Wir wussten, was für vollzugsinterne Maßnahmen uns drohen. Unendliche Jahre in Isolationshaft. Das möchte man nicht überleben.“
Es endet nach 13 Stunden im Wahnsinn. SEK-Beamte schießen Heckhoff in Schulter und Lunge, als er den Fluchtwagen inspiziert. Knickmeier überschüttet zwei der Geiseln mit medizinischem Alkohol. „Ich habe dem Psychologen, der die Verhandlungen geführt hat, gesagt, dass ich die anzünden werde.“ Er macht eine Pause. „Das habe ich dann leider auch gemacht.“ Er stürmt auf die Polizisten zu. „Ich habe gehofft, dass die mich erschießen.“ Er überlebt mit sechs Kugeln im Bein. Seine Opfer überleben mit schweren Brandverletzungen.
Achteinhalb Jahre in Isolation von anderen Menschen
Danach verbringt Knickmeier achteinhalb Jahre in Isolation, erst im Gefängnis in Bielefeld, dann in Bochum. Kein Kontakt zu anderen Menschen. Er beginnt zu lesen. Bücher über Psychologie, Philosophie. Es ist schwierig einzuschätzen, wie er diese Zeit wirklich erlebt hat. Einerseits berichtet er von Hungerstreiks und Suizidversuchen. Andererseits sagt er: „Ich brauchte nichts mehr. Ich fühlte mich wohl, hatte mich von allem Menschlichen und Gesellschaftlichen freigemacht.“
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Die ersten Menschen, mit denen er wieder ausführlich redet, sind ein evangelischer Pfarrer und eine Pädagogin, die ihn besuchen. „Ich habe denen erst in Gedanken geantwortet, weil ich ja immer in Gedanken mit mir selbst gesprochen hatte. Ich musste neu sprechen lernen.“ Knickmeier legt Wert darauf, dass er sich seit den Ereignissen im Jahr 1992 nichts mehr zuschulden hat kommen lassen. „Ich habe einen Entwicklungsprozess durchlaufen. Mein bockiges Verhalten von früher ist weg, die alten Strukturen sind aufgebrochen.“
Nach Zwischenstationen in Wuppertal und Hagen landet Knickmeier wieder in Bochum. Er spricht dort immer wieder mit einer Psychologin. Eine nette Frau, wie er sagt. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie eine Diagnose über ihn erarbeitet. Die Psychologin sagt ihm: „Sie sind überdurchschnittlich psychopathisch.“ Als er das erzählt, spielen seine Finger nicht mehr mit der Maske. Sie kneten sie.
„Seine psychologische Diagnose ist schwierig“, sagt Andreas Schüller. Er ist Leiter der Haftanstalt in Geldern, in der Kurt Knickmeier seit 2012 sitzt. Knickmeier habe sich stets „hausordnungskonform“ verhalten, sagt Schüller. Ein ruhiger Häftling, dem die Verantwortung der Bibliothek obliegt. Das macht er gut, die Zahl der ausgeliehenen Bücher und der Ausleiher ist unter ihm gestiegen. Er ist auch einer, der viele Anträge auf gerichtliche Entscheidungen stellt. „Ich habe mich juristisch weitergebildet“, sagt Knickmeier. „Der hat sich da reingefuchst“, sagt Schüller anerkennend.
Knickmeier hat „vollzugsöffnende Maßnahmen“ beantragt
Knickmeier ist stolz auf juristische Erfolge, die er erzielt hat. „Die Gefangenen dürfen jetzt eine Playstation 2 in ihren Hafträumen haben. Das habe ich eingeklagt. Sie glauben nicht, wie gut die ihre Zeit damit rumkriegen.“ Er referiert lange und ausführlich über das Strafrecht und sagt Sätze wie: „Auch ich als gebeutelter Mensch habe ein Rechtsempfinden“ oder „ich habe früher den Strafvollzug nicht als generell feindlich erlebt, er war eben notwendig“ oder „wir als Gesellschaft haben einen Resozialisierungsauftrag gegeben und der Vollzug hat das umzusetzen“.
Es gibt einen Gefangenen im Knast in Geldern, der sitzt noch länger ein als Knickmeier. Dem gibt er Rechtsberatung, kostenlos natürlich, alles andere wäre illegal. Als Herr Knickmeier über diesen Mann spricht, hebt sich plötzlich sein linker Mundwinkel, und dann verzieht sich sein Gesicht zu einem breiten, freudlosen Lächeln, er beugt sich nach vorne und sagt langsam, raunend: „Den lassen sie hier nie wieder raus.“ Es ist, als überfiele ihn die Furcht, dass er über sich selbst spricht.
Der Strafvollzug habe sich verändert, klagt Knickmeier. Frühere Privilegien für Lebenslängliche gebe es nicht mehr. Er weiß: „Vor 2026 bin ich auf gar keinen Fall raus. Dann bin ich 64. Das akzeptiere ich. Aber ich muss eine Chance haben herauszukommen.“ Deswegen hat er „vollzugsöffnende Maßnahmen“ beantragt. Die sind ihm nicht gewährt worden. In der Begründung, sagt er, sei darauf verwiesen worden, dass er persönlichkeitsgestört sei. Er will das jetzt gerichtlich durchfechten.
Anstaltsleitung weigert sich, ihm todbringende Medikamente zu geben
Gleichzeitig hat er beantragt, Medikamente zu bekommen, mit denen er sein Leben zu beenden kann. „Wenn das Bundesverfassungsgericht mir bestätigt, dass ich nie wieder rauskomme, will ich die Pille. Meine weitere Existenz hätte dann keinen Sinn mehr.“
„Uns war sehr schnell klar: Das machen wir nicht“, sagt Anstaltsleiter Andreas Schüller: „Wir sind dazu da, den Leuten eine Perspektive zu geben und nicht aktiv zu ihrem Ende beizutragen.“ Er lehnte den Antrag im Mai 2020 ab. In einer Begründung argumentierte Schüller, die Justizvollzugsanstalt könne keine Suizidhilfe leisten, da ihr die Gesundheitsfürsorge für die Gefangenen obliege. In den Leitsätzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, auf das sich Knickmeier beruft, steht auch: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“
Der Fall ist einmalig in der Bundesrepublik
Das Landgericht Kleve gab einer Beschwerde von Knickmeier nicht statt: Es gebe erstens keinen Anspruch des Gefangenen auf Beihilfe zur Selbsttötung; zweitens sei Beihilfe zur Selbsttötung keine Gesundheitsfürsorge, wie sie das Strafvollzugsgesetz vorschreibt; drittens müsse Knickmeier die Gewissensfreiheit der Anstaltsleitung hinnehmen. Auch das Oberlandesgericht in Hamm folgte der Argumentation. Es ist also nach Ansicht der Richter legitim, wenn die JVA dem Gefangenen nicht die Medikamente besorgt, mit denen er sich umbringen könnte. Sollte Knickmeier sich aber wie der Häftling in Aachen entscheiden, sich zu Tode zu hungern, „dann hätten wir ein Problem“, räumt Schüller ein.
Damit sein prominenter Häftling eine Perspektive bekommt, müsse er mitarbeiten, betont Schüller. Entsprechende Angebote seien ihm gemacht worden. „Er lässt sich aber auf nichts ein.“
Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen: Das Bundesverfassungsgericht hat den Fall jetzt wegen Formfehlern an das Klever Landgericht zurückverwiesen. Es ist ein Fall, der einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik ist.
NRW: 400 Menschen sitzen lebenslängliche Haftstrafe ab
In Nordrhein-Westfalen sitzen derzeit nach Angaben der Landesjustizvollzugsdirektion über 400 Menschen eine lebenslängliche Freiheitsstrafe ab.
Grundsätzlich gilt: Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe soll bis zum Lebensende vollstreckt werden. Jeder Mensch muss aber laut Verfassung die Perspektive haben, in Freiheit zu gelangen.
Deswegen kann die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Haftstrafe unter bestimmten Voraussetzungen ausgesetzt werden: 15 Jahre der Strafe müssen verbüßt sein; der Verurteilte muss in die Entlassung einwilligen; die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten gebietet die weitere Vollstreckung nicht; er muss über eine positive Kriminalprognose verfügen.
Durchschnittlich sitzen zu lebenslang Verurteilte zwischen 15 und 19 Jahren im Gefängnis. 16 bis 20 Prozent sterben in Haft.
Aufgrund der Nachahmungsgefahr berichten wir in der Regel nicht über Suizide bzw. Suizidversuche. Wenn Sie sich in einer akuten Krise mit Suizidgedanken befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt bzw. die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.