Essen. Vor zehn Jahren wurde der erste Burger vorgestellt, für den kein Tier sterben musste. Jetzt ist das Fleisch aus dem Labor in Europa angekommen.

Es war eine Weltsensation, auch wenn sie so schrecklich normal aussah: Vor genau zehn Jahren stellte der niederländische Biomediziner Mark Post in London den ersten Burger aus dem Labor vor: ein Häufchen Hack zwischen zwei Brötchenhälften und Salatblättern. Nur, dass der Burger 300.000 Euro kostete.

Das Stück Fleisch, das der Weltöffentlichkeit gezeigt und vor den Kameras verköstigt wurde, war in einem Fermenter, einer Art Bioreaktor, aus Stammzellen eines Rindes herangereift. Hinter dem Fleisch aus dem Labor steckte und steckt immer noch der Traum von einer besseren Welt, die Hoffnung, den Hunger von Milliarden Menschen zu stillen, ohne dass dafür Tiere sterben und die Umwelt leidet. An diesem Augusttag 2013 schien die Lösung plötzlich so nah. Die Nachricht ging um die Welt: Es ist möglich, Fleisch künstlich herzustellen.

Klimakrise und Ukraine-Krieg bedrohen Lieferketten

Ein Jahrzehnt ist seitdem vergangen. Klimakrise und Ukraine-Krieg bedrohen die Ernährungssicherheit und weltweite Lieferketten, die Regenwälder schrumpfen. Doch weder in Deutschland noch in der EU hat ein Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren einen Antrag gestellt, ein im Labor erzeugtes Fleischprodukt zuzulassen. Was blieb vom Traum einer besseren Welt?

Marius Henkel, Bioingenieur und Professor für zellulare Landwirtschaft an der TU München.
Marius Henkel, Bioingenieur und Professor für zellulare Landwirtschaft an der TU München. © Privat | Schwab

Marius Henkel ist der weltweit erste Professor für zellulare Landwirtschaft. An der TU München, auf dem Campus Weihenstephan in Freising, forscht er seit nunmehr fast einem Jahr nach Antworten auf die großen Fragen. „Als Mark Post vor zehn Jahren den ersten Burger aus kultiviertem Fleisch vorgestellt hat, habe ich das als einen besonderen Moment empfunden“, sagt der Bioingenieur im Gespräch mit dieser Redaktion. „Es war damals klar, dass man diesen Prototypen nicht gleich kommerzialisieren kann. Doch der Burger hat gezeigt, dass die Technologie grundsätzlich funktioniert“, sagt Henkel.

Kultiviertes Fleisch wächst in Fermentern zu einer Masse

Fleisch aus dem Labor hat inzwischen viele Namen: In-vitro-Fleisch, Clean Meat, kultiviertes Fleisch. „Es ist dasselbe Rinder-, Schweine- und Hühnerfleisch, das wir heute essen“, sagt Ivo Rzegotta, Sprecher der Nichtregierungsorganisation Good Food Institute (GFI).

Hinter dem Fleisch, das aus Tierzellen stammt, doch außerhalb des Tierkörpers wächst, steckt ein Verfahren, das sich „Tissue Engineering“ nennt, auf Deutsch Gewebekonstruktion oder Gewebezüchtung. Dafür gebraucht wird Muskel- und Fettgewebe von Tieren, das unter lokaler Betäubung entnommen wird. Aus dem Gewebe werden vermehrungsfähige Stammzellen gewonnen. In einem Fermenter wachsen sie in einem Nährmedium zu einer Masse zusammen, die Hackfleisch ähnelt. Je nach Medium bilden die Stammzellen Muskel-, Fett- oder anderes Gewebe.

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Um neben Burger-Patties oder Chicken Nuggets auch „echte“, faserige Fleischstücke oder Steaks herstellen zu können, werden dreidimensionale Gerüstsubstanzen gebraucht, auf denen die Zellen wachsen können, etwa Chinin oder Kollagen. Das Zellkulturfleisch kann in die „Patronen“ eines 3-D-Druckers eingefüllt werden. Im Druck wird das Fleisch durch die Düsen gepresst. Schicht für Schicht entsteht so ein dreidimensionales Stück Fleisch. Hat ein Drucker mehrere Düsen, können sie mit unterschiedliche Stoffmischungen gefüllt werden, die etwa Muskelgewebe, Fett oder Blut abbilden sollen. Von einem konventionell hergestellten Stück Fleisch soll es dann nicht mehr zu unterscheiden sein.

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© Funkegrafik | Jill Starke

Fleisch aus dem Labor könne viele Probleme lösen, argumentiert das Good Food Institute. Treibhausgase, Flächenbedarf, Luftverschmutzung – in allen Bereichen seien die Umweltauswirkungen deutlich geringer als Fleisch aus einer Tierhaltung, die Ressourcen verschlinge: In Europa würden über 45 Prozent der angebauten Pflanzen an Tiere verfüttert, in Deutschland 60 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche für Tierfutter genutzt. Eines der Hauptargumente aber ist das Tierwohl. „Durch Kultivierung können wir das Fleisch herstellen, das die Menschen gewohnt sind und lieben, ohne Tieren dabei Schaden zuzufügen“, so das GFI. Dabei sei eine weitere Hürde überwunden: Bei den Nährmedien gibt es nun „tierfreie“ Alternativen zu den bislang notwendigen Kälberseren, das aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wurde.

„Kultiviertes Fleisch ist kein Fleischersatz, sondern echtes Fleisch, das von tierischen Zellen produziert wird – nur geschieht dies außerhalb des Tierkörpers“, stellt der Maschinenbau- und Technologiekonzern GEA in einem Bericht seiner Unternehmenssparte New Food klar. „Doch es bleibt eine Mammutaufgabe, Farbe, Mundgefühl und Geschmack von konventionell produziertem Fleisch im Labor nachzubauen.“

New Food: Düsseldorfer Konzern GEA baut Spezialmaschinen

GEA ist einer der weltgrößten Systemanbieter für die nahrungsmittelverarbeitende Industrie. Er baut unter anderem auch Produktionsanlagen, Gäranlagen oder Bioreaktionen. 2022 erwirtschaftete der Konzern im Spezialmaschinenbau einen Umsatz von 5,2 Milliarden Euro und beschäftigte weltweit über 18.000 Mitarbeiter. In NRW gilt er als unbekannter Riese: Sein Konzernsitz ist in Düsseldorf.

Doch was im kleinen Maßstab funktioniert, scheint noch nicht massentauglich. Die größte Hürde sei derzeit das Skalieren von Prozessanlagen für kultiviertes Fleisch, heißt es bei GEA. Die Produktion im industriellen Maßstab benötige Stammzellen und Nährmedien in riesigen Mengen. Auch Prof. Marius Henkel sieht noch einen langen Weg vor sich: „Heute stehen uns bei der Entwicklung neuer Lebensmittel viel mehr technische Möglichkeiten zur Verfügung. Wir haben künstliche Intelligenz, mathematische Modelle und neue Sensortechniken. Das alles gab es früher nicht. Dennoch sind wir in großen Teilen immer noch in der Grundlagenforschung.“ Er möchte keine Zeitprognosen abgeben, sagt Henkel. „Ich würde jedoch nicht erwarten, dass wir noch in diesem Jahrzehnt in großer Masse kultivierte Fleischprodukte aus dem Supermarkt essen werden.“

Israelisches Startup stellt Zulassungsantrag in der Schweiz

Mark Post, Forscher der Universität Maastricht und Mitgründer des niederländischen Food-Start-ups Mosa Meat.
Mark Post, Forscher der Universität Maastricht und Mitgründer des niederländischen Food-Start-ups Mosa Meat. © DPA

Seit Mark Post 2013 den ersten Kunst-Burger präsentierte, haben Investoren immer wieder Wagniskapital in die Entwicklung von kultiviertem Fleisch fließen lassen. Bis Ende 2022 sollen es entlang der gesamten Wertschöpfungskette über zwei Milliarden Dollar gewesen sein. In Europa haben sich die privaten Investitionen gegenüber dem Vorjahr auf 120 Millionen Euro fast verdreifacht. Das Good Food Institute gibt in seinem Report die Zahl von über 150 Unternehmen an, die weltweit an der Kultivierung von Fleisch oder Fisch arbeiten.

Doch es dauerte bis Ende 2020, ehe Singapur als erstes Land der Welt kultiviertes Hähnchenfleisch für den Verkauf zuließ – 14 US-Dollar soll der Spieß kosten. Vor zwei Monaten erlaubten die USA den Unternehmen Upside Foods und Good Meat, aus Zellkulturen gezüchtetes Hähnchenfleisch zu verkaufen. Nun ist zellbasiertes Fleisch auch in Europa angekommen: Vor wenigen Tagen reichte Aleph Farms aus Israel einen Antrag bei den Schweizer Regulierungsbehörden ein. „Das sollte für Deutschland ein Weckruf sein“, sagt Henkel. „Wir müssen unsere eigenen Bemühungen verstärken, ehe unsere Firmen und Experten ins Ausland abwandern, um ihre Produkte dort zu vermarkten.“

Biotech-Professor Henkel: Höchste Zeit für Deutschland

Das Good Food Institute zählt in Deutschland eine Reihe von Startups, die kultivierte Endprodukte herstellen oder Industriekunden mit Inhaltsstoffen versorgen wollen, darunter Bluu Seafood (Berlin), Innocent Meat (Rostock), Alife Foods (Leipzig) oder Cultimate Foods (Berlin). Auch etablierte Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft würden investieren. GFI nennt das Beispiel Rügenwalder Mühle (Bad Zwischenahn), das mit dem Schweizer Startup Mirai Foods eine Partnerschaft geschlossen habe.

„Wir brauchen öffentliche Förderprojekte und das Signal der Politik, für die Produktentwicklung Geld auf Bundesebene bereitzustellen“, mahnt Henkel. Die massenhafte Einführung neuer Lebensmittel wie Produkte aus kultiviertem Fleisch werde nicht von einem Tag auf den anderen gelingen. „Man muss der Öffentlichkeit und auch der Politik klar machen, dass die Entwicklung ein langer Prozess ist, der begleitet werden muss. Deutschland ist in diesem Prozess hintendran. Wir haben die Entwicklung noch nicht verschlafen, aber es ist höchste Zeit, dass wir in Deutschland anfangen, den Prozess zu begleiten.“ Kultiviertes Fleisch fällt in Europa in die Kategorie Novel Food. Der Zulassungsprozess dauert etwa 18 Monate.

Insekten, Algen, Pflanzen: Suche nach neuen Proteinquellen

Die Zeit drängt. „Unser System, wie wir die Menschheit ernähren, stößt langsam an seine Grenzen“, sagt Henkel mit Blick auf die globalen Entwicklungen. So gehen etwa die Vereinten Nationen davon aus, dass die globale Mittelschicht auf diesem Planeten schon 2030 auf über fünf Milliarden Menschen angewachsen sein wird. Proteinquellen wie Insekten, Algen oder Pflanzen müssten stärker genutzt werden. „Es kann nicht die Lösung sein, auf anderen Kontinenten immer mehr Regenwald abzuholzen“, mahnt Henkel.

Hintergrund: Wie nachhaltig ist Fleisch aus dem Labor wirklich?

Der Bioingenieur sieht drei Möglichkeiten, um Eiweiße in Form lebenswichtiger Proteine herzustellen: Fleischersatz aus pflanzlichen Rohstoffen, Lebensmittel aus Biomasse - und eben Fleisch aus Zellkulturen. Konventionell erzeugte Fleischprodukte werde es weiter geben, sagt Henkel. „Ich glaube aber, dass in der Zukunft Hybridprodukte sehr wichtig werden. Dabei ist ein pflanzliches Produkt die Basis“. Er erwarte aber auch, dass es kultiviertes Fleisch im Supermarkt geben werde. „Irgendwann, und vielleicht nicht unbedingt als Produkt für jedermann.“

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