Kreis Wesel. Streckenführung, Verbindungen, Fahrpreise und Antriebsarten: Im Interview spricht der Niag-Vorstand über die Herausforderungen für den ÖPNV.
Was kann und muss der ÖPNV im Kreis leisten, um für die Zukunft gerüstet zu sein, umweltfreundlicher und attraktiver zu werden? Es geht um Streckenführung und -verbindungen, um Fahrpreise und um die Antriebsarten. Über die Anforderungen und Möglichkeiten sprachen Ann-Christin Fürbach und Philipp Ortmann einen Tag vor Einführung des 9-Euro-Tickets mit den Geschäftsführern der Niederrheinischen Verkehrsbetriebe (Niag), Christian Kleinenhammann und Peter Giesen.
NRZ: Zu Beginn ein Praxisbeispiel: Wir sind am Montagnachmittag von Neukirchen-Vluyn nach Hamminkeln-Dingden gefahren. Dafür haben wir mehr als zwei Stunden gebraucht und 13 Euro für eine Strecke bezahlt.
Christian Kleinenhammann: Wird ab morgen günstiger (Lachen).
Das wäre ganz schön. Vor allem, um diejenigen an den ÖPNV zu binden, die ihn momentan noch nicht regelmäßig nutzen.
Kleinenhammann: Anschlüsse, Verbindungen und der Preis sind essenziell, aber beide Themen entscheiden wir nicht bzw. nicht alleine. Das Verkehrsangebot wird durch die Nahverkehrspläne und Aufträge unserer Aufgabenträger, den Kreisen Wesel und Kleve sowie verschiedene Kommunen wesentlich geprägt. Die Ticketpreise werden vom VRR beschlossen. Unser Wunsch ist natürlich, die Lücken in unseren Netzen zu schließen. Wo es realisierbar ist, nehmen wir Veränderungen in Abstimmung mit den Kommunen vor. Dabei beschränken wir uns nicht auf die mögliche Einführung zusätzlicher Linien oder auf Veränderungen der Linienverläufe. Als Mobilitätsdienstleister beziehen wir auch andere Mobilitätsformen- und Verkehrsträger mit ein, wie On-Demand-Verkehre, Car- und Bike-Sharingsysteme.
Von welcher Zeitschiene sprechen wir da?
Kleinenhammann: Das wird sicherlich nicht in ein oder zwei Jahren erfolgen können. Wir treiben das Ganze voran, in dem wir die heute verfügbaren Möglichkeiten aufzeigen und mit den Aufgabenträgern besprechen. Da die Mobilitätswünsche nicht an den Kommunalgrenzen enden, ist es wichtig, die gesamte Region in den Blick zu nehmen. Hierfür haben wir vor Jahren einen Kommunalbeirat gegründet, in dem alle Bürgermeisterinnen, Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte der beiden Kreise Wesel und Kleve vertreten sind. So können wir die politischen Mandatsträger umfassend über Mobilitätsthemen informieren, und es können gemeinsame Lösungen entwickelt werden. Aber die Finanzierung ist das dickste Brett, das man durchbohren muss, um den ÖPNV attraktiver zu machen.
Peter Giesen: Für die Frage, ob der ÖPNV genutzt wird, spielen die Ticketpreise natürlich eine Rolle. Mit dem 9-Euro-Ticket wurde durch Bund und Land ein Signal gesetzt, zumindest für drei Monate. Und die Nachfrage ist hoch. Damit verbunden ist aber die Verpflichtung, die sinkende Nutzerfinanzierung auszugleichen. Die Politik muss grundsätzlich entscheiden, zu welchem Ticketpreis der ÖPNV genutzt und wie die Fremdfinanzierung erfolgen soll. Wenn der Fahrpreis aus ökologischen Gründen gesenkt wird, um mehr Fahrgäste zu gewinnen, dann muss das für die Verkehrsunternehmen ausgeglichen werden. Und wenn wir alternative Antriebstechnik, wie Elektrobusse, einsetzen, steigen die Kosten weiter, ohne dass mehr gefahren wird. Wir benötigen klare politische Entscheidungen zur Nutzerfinanzierung, zur Finanzierung von alternativen Antrieben und bei Angebotsausweitungen.
Wie das 9-Euro-Ticket?
Kleinenhammann: Die Verkaufszahlen zeigen, das 9-Euro-Ticket hat einen hohen Anreiz. Das Problem ist nur, dass wir weiterhin Angebotslücken haben und der jetzige Anreiz zwar auf ein stabiles, aber auch begrenztes System trifft. Wir haben nicht Züge, Busse oder On-Demand-Systeme ungenutzt in der Ecke stehen, die man schnell zusätzlich einsetzen kann. Deswegen wird das ab und an vielleicht ein bisschen ruckeln. Zielsetzung muss aber sein, langfristig mehr Menschen aus dem Auto heraus und in den ÖPNV hinein zu bekommen.
Da werden Sie bei der Bevölkerung ziemlich dicke Bretter bohren müssen. Das Ansehen des ÖPNV ist im Kreis Wesel ja nicht besonders hoch.
Kleinenhammann: Es gibt nicht die eine Maßnahme, und es werden viele Akteure benötigt. Wenn Leute nicht pünktlich an ihr Ziel kommen, ist der Ärger total nachvollziehbar. Aber wenn Sie von Moers nach Duisburg wollen, stehen wir häufig auf der A40 im gleichen Stau wie die Autofahrer. Wir brauchen ergänzende Sharing-Systeme und On-Demand-Angebote, mehr Digitalisierung und Veränderungen im Tarifsystem. Das 9-Euro-Ticket ist nicht nur beliebt, weil es günstig ist, sondern auch, weil es einfach ist.
Wie wollen Sie diese Einfachheit aufrechterhalten, mit allen verschiedenen Angeboten, die Sie für eine durchgängige Verkehrsstruktur schaffen möchten?
Giesen: Da gibt es viele Ansätze, vor allem, um die Zugangshemmnisse zu senken. Das fängt mit der digitalen Auskunft über Verbindungen und Verfügbarkeiten von unterschiedlichen Verkehrsträgern an. Das liefern die heutigen Apps schon zum Teil. Wir benötigen auch mehr Komfort an Verknüpfungspunkten der unterschiedlichen Verkehrsträger. Daher wird es notwendig sein, vorhandene Mobilstationen auszubauen und neue zu errichten. Hier gibt es mit MobilityBoxen auch flexible Lösungen.
Woran hakt es noch?
Giesen: Wir brauchen eine Änderung im Bewusstsein der Menschen für den ÖPNV. Der Individualverkehr steht seit Jahrzehnten im Vordergrund. In der Vergangenheit sind ÖPNV-Mittel häufig bei der Sanierung der öffentlichen Haushalte gekürzt worden. Dadurch mussten Verbindungen abgebaut und reduziert werden. Seit zwei, drei Jahren sehen wir den deutlichen politischen Willen, den ÖPNV zu stärken. Das begrüßen wir sehr. Aber es kommt auch auf die Nutzerinnen und Nutzer an. Jeder hat das Auto ja vor der Tür stehen. Da haben wir zwei Verkehrssysteme nebeneinander stehen, bei dem der Pkw aus Individualität und Flexibilität, aber auch hinsichtlich Bequemlichkeit noch immer einen deutlichen Vorsprung hat. Durch Angebotsausweitungen, Komfortverbesserungen, Abbau von Zugangsbarrieren und Preisgestaltung im ÖPNV können die Unterschiede verschoben werden. Die Umsetzung braucht aber seine Zeit. Ich bin fest davon überzeugt, dass die ÖPNV-Welt in zehn Jahren anders aussehen wird. Wir dürfen nur nicht zu früh aufgeben.
Wo im Kreis Wesel gibt es noch schwarze Flecken, wo geht es gar nicht ohne Auto?
Kleinenhammann: Wir haben eine gut ausgebaute Nord-Süd-Tangente in unserem Verkehrsgebiet, aber die Verbindungen von West nach Ost sind ausbaufähig. Da haben wir noch Bereiche, die nur über ein geringes ÖPNV-Angebot verfügen. Gerade für diese Gebiete brauchen wir unterschiedliche und flexible Lösungen zur Ergänzung des Angebotes. Das bedeutet aber auch einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf.
ÖPNV-Umlage im Kreis Wesel
- Im Kreis Wesel wird in diesem Jahr nach zehn Jahren erstmals eine ÖPNV-Umlage erhoben, die alle Kommunen zu entrichten haben.
- „Die negativen Corona-Folgen lassen langsam nach, nun kommt die nächste Belastung durch steigende Energiekosten infolge des Krieges in der Ukraine. In dieser Situation benötigen wir klare politische Bekenntnisse für eine Fortsetzung der Stärkung des ökologisch positiven ÖPNV“, sagt Christian Kleinenhammann. „Durch die Verpflichtungen aus dem Klimaschutzgesetz wird eine Verkehrswende mit stärkerer Nutzung des ÖPNV notwendig. Dies ist auf kommunaler, auf Bundes- und Landesebene richtigerweise in den Fokus geschoben worden und erfordert auch eine Ausweitung des ÖPNV-Angebotes.“