Mülheim/Essen. In unserer Serie blicken wir auf „Spektakuläre Blaulicht-Einsätze“ in Mülheims Geschichte. Zum Auftakt blicken wir auf eine Tragödie nahe der A52.
Montag, 8. Februar 1988, 7.10 Uhr. Auf dem Flughafen Hannover startet eine zweimotorige Maschine des Typs SA 227-AC Metro III des Nürnberger Flugdienstes (NFD) mit 19 Passagieren und zwei Besatzungsmitgliedern Richtung Düsseldorf. 21 Menschen sind an Bord, überwiegend Kaufleute und Techniker der Gebäckfabrik Bahlsen aus Hannover. 21 Menschen, die nicht wissen können, dass sie eine knappe dreiviertel Stunde später tot sein und ihre Körper auf einem Feld an der Stadtgrenze Mülheim/Kettwig liegen werden.
Während die Maschine auf dem Weg zum Düsseldorfer Flughafen ist, braut sich eine Schlechtwetterfront mit einem heftigen Gewitter im Raum Düsseldorf-Essen-Mülheim zusammen. Sturmböen jagen am wolkendunklen Himmel und am Boden dichte Schleier von Schneeschauern vor sich her. Vor Düsseldorf wird die Sicht für den 36-jährigen Piloten Ralf Borsdorf und die 29 Jahre alte Co-Pilotin Sibylle Heilmann immer schlechter.
Arbeiter der Straßenmeisterei sehen an Mülheims Ruhrtalbrücke helles Flugzeug tief vorbeischießen
Gegen 7.50 Uhr haben die Piloten der Maschine mit dem Funknamen „Flamingo 108“ und der Tower des Düsseldorfer Flughafens Funkkontakt. Die Maschine erhält die Landeerlaubnis für Düsseldorf. Der Tower macht die Crew noch darauf aufmerksam, dass eine Lufthansa-Maschine sechs Meilen vor der Landung einen Blitzeinschlag gehabt hat. Wegen der schlechten Sicht ist nur Instrumentenanflug möglich. Sibylle Heilmann quittiert die Meldung und verabschiedet sich mit einem „Tschüss“ von dem Fluglotsen. Das letzte Wort, das man hören wird.
Wenige Minuten später hören an der Mendener Straße, nahe der 40 Meter hohen Ruhrtalbrücke der A52, drei junge Arbeiter der Straßenmeisterei ein immer lauteres Motorengeräusch. Die Männer, vor dem Unwetter in einen Schuppen geflüchtet, sehen ein helles Flugzeug tief vorbeischießen. Dann ein ohrenbetäubender Knall.
Grauenhafte Szene an der Absturzstelle: überall Leichenteile
Im Tower in Düsseldorf macht sich derweil Unruhe breit, weil man um 7.58 Uhr festgestellt hat, dass die „Flamingo 108“ vom Radarschirm verschwunden ist. Kontaktversuche mit der Besatzung scheitern. Nur wenig später meldet der Regionalflughafen Mülheim einen Flugzeugabsturz. Mitten in die Frühbesprechung der Essener Kriminalpolizei platzt etwa zur gleichen Zeit die Nachricht: vermutlich Absturz einer zweimotorigen Maschine in der Nähe von Kettwig.
Die Essener Polizei, die nach der Kriminalhauptstellenverordnung bei großen Einsatzlagen federführend auch für Mülheim zuständig ist, schickt ebenso wie die Mülheimer Polizei und die Feuerwehr sofort Kräfte zum Unglücksort los. Den Beamten, herbeigeeilten Anwohnern und zufällig vorbeikommenden Autofahrern bietet sich auf den Äckern nahe der Autobahnbrücke ein unfassbares Bild. Auf einer riesigen Fläche verteilt liegen die Trümmer der „Flamingo 108“, dazwischen Gepäckstücke, persönliche Gegenstände der Passagiere und: überall Leichenteile. Nichts ist mehr am Stück.
Katastrophentourismus und Souvenirsuche am Unglücksort zwischen Essen und Mülheim
Nach ersten Lagemeldungen läuft die Maschinerie im Polizeipräsidium Essen mit Macht an. Ein Großaufgebot an Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei wird zusammengestellt. Wie immer bei solchen Ad-hoc-Lagen besteht zunächst ein Durcheinander an Informationen. Gerenne auf den Fluren. Hektische Telefonate. Überlebende ja? Überlebende nein? Noch weiß niemand Genaues.
Im Präsidium wird nach vorhandenen Einsatzplänen eine Katastrophen-Kommission zusammengestellt. Den Einsatzabschnitten Leitung, Ermittlungen, Identifizierung, Leichensicherung und Tatort, Asservaten-Sammelstelle, Leichensammelstelle und Vermisstenstelle werden sukzessive 76 Kriminalbeamte zugewiesen, die alle aus ihrer Tagesroutine geholt werden. Immer mehr Einsatzkräfte rollen auf den Unfallort zu. Aber auch viele Schaulustige bahnen sich einen Weg Richtung Ruhrtalbrücke. Die Nachricht von dem Flugzeugabsturz geht wie ein Lauffeuer herum. Polizeibeamte, die bereits draußen sind, müssen Katastrophen-Touristen, die sich schon mit Souvenirs vom Unfallort eindecken, vertreiben. Kälte, Schneetreiben und Sturm sorgen für unangenehmste Arbeitsbedingungen auf den matschigen Feldern. Eine Kriminalbeamtin der damaligen Zeit erinnert sich: „Ich hatte in meinem Dienstleben vorher schon viel gesehen. Nach dem Anblick dieses Einsatzortes brauchte ich aber einen Schnaps.“
Ministerpräsident Johannes Rau eilt mit einem Hubschrauber zur Absturzstelle
Um 10 Uhr beginnen die ersten Bergungs- und Sicherungsmaßnahmen. Ein früherer Beginn ist nicht möglich. Zu umfangreich sind die vorbereitenden Arbeiten, die in den Dienststellen geleistet werden müssen, um mit einer geordneten, systematischen Arbeit vor Ort zu beginnen. Die Absturzstelle wird von starken uniformierten Kräften, nach und nach 257 Beamten aus Mülheim, Essen und der Bereitschaftspolizei, großräumig abgesperrt. Das Trümmerfeld wird für die Spurensicherung mit Metallstangen und Flatterband in Planquadrate aufgeteilt. Immer mehr Pressevertreter wollen vor Ort mit Informationen versorgt werden. Im Präsidium mehren sich die Anrufe besorgter Angehöriger der Insassen, die im Radio von einem Absturz gehört haben.
Rechtsmediziner, Spezialisten der Identifizierungskommission des Bundeskriminalamtes, Fachleute des Luftfahrtbundesamtes sowie Vertreter der Staatsanwaltschaften Essen und Duisburg werden zum Einsatzort gerufen. Auch Ministerpräsident Johannes Rau eilt mit einem Hubschrauber zur Absturzstelle.
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Absturz-Ursache: Eine Blitzeinschlag hatte die Bordelektrik lahmgelegt
Der Vorschlag der Bundeswehr, eine 250 Meter lange, provisorische Panzerstraße über die schlammigen Äcker anzulegen, um Einsatzfahrzeuge zum Trümmerfeld gelangen zu lassen, muss fallen gelassen werden. Stattdessen wird auf die Hilfe eines Bauern zurückgegriffen. Sein Traktor hat ein Meter breite Reifen. Trotz aller Widrigkeiten gelingt es bis zum Abend des Absturztages so, viele Leichenteile einzusammeln, dass man auf eine Mindestzahl von 20 Toten kommt. Die sterblichen Überreste sind bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Teile werden zur Untersuchung und Identifizierung zum Rechtsmedizinischen Institut des Uni-Klinikums gebracht.
Beim Luftfahrtbundesamt werden Trümmer der Maschine später wie ein Puzzle weitgehend wieder zusammengesetzt, auch wenn einige Teile vermutlich in der Ruhr und in den Taschen von Souvenirjägern verschwunden sind. Das Ergebnis: Ausgerechnet dort, wo der Hauptteil der Bordelektronik gesessen hatte, ist ein kleines Loch. Ein Blitz war dort eingeschlagen und hatte die Bordelektronik lahmgelegt. Die Piloten hatten keine Chance.
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