Mülheim. Iveen (20) musste als Zehnjährige ihre Heimat im Irak verlassen. Mit 14 Jahren kam sie nach Deutschland, erarbeitete sich mit Ehrgeiz vieles.
Als Iveen Sulaiman um sich herum zum ersten Mal Mord, Sklaverei und Vergewaltigung wahrnimmt, ist sie keine zehn Jahre alt. Bis sie begreift, was sie damals gesehen hat, vergehen Jahre. Vergeben oder vergessen hat sie bis heute nicht und will es auch nicht. Die 20-Jährige hat im Alter von zehn Jahren ihre Heimat, die irakische Stadt Shingal, verlassen müssen. Details aus der damaligen Zeit möchte Iveen nicht unbedingt erzählen, „es fühlt sich aber an, als wäre es gestern erst gewesen“. Über Umwege ging es nach Deutschland, in Mülheim fasst die Familie Wurzeln. Hier besucht Iveen die Gustav-Heinemann-Schule, will ihr Abitur machen.
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„Ich habe hier alles“, sagt die zierliche junge Frau, ihre Hände mit den rot lackierten Nägeln sind im Schoß gefaltet. Derzeit besucht Iveen die Q1 der Oberstufe, also noch ein Jahr bis zum Abschluss. „Früher hat es mich gestört, dass ich älter bin als meine Mitschüler“, gibt sie preis. „Aber mittlerweile macht es mir nichts mehr.“ Fragen wie „Was machst du mit 20 Jahren noch an der Schule“ rühren von Unwissenheit. Darüber, dass Iveen lange Zeit weder festen Wohnsitz, noch eine Aussicht auf einen geregelten Alltag hatte. Darüber, dass Iveen mit 15 Jahren, als sie bereits ein Jahr lang Deutsch in einer Integrationsklasse gelernt hatte, in die siebte Klasse geschickt wurde, zu 13-Jährigen.
Mülheimerin lernt in ihrer Freizeit, holt Stoff nach
„Das hat mich ehrgeizig gemacht“, erinnert sich das dritte von insgesamt vier Kindern zurück. „Ich hatte überall G-Kurse, wollte aber E-Kurse.“ Das G wie Grundkurs war Iveen nicht genug, es musste E wie Erweiterung sein. Erst Mathe, Chemie, dann Englisch und irgendwann auch Deutsch - genug E-Kurse, um die Qualifikation fürs Abitur in Betracht zu ziehen. „Ich will unbedingt Abi machen“, sagt die 20-Jährige. Nach der Schule setzt sie sich an den Schreibtisch, arbeitet Stoff aus den Stufen aus, die sie verpasst hat. Und all das neben Handballtraining und familiären Verpflichtungen. Ihr Ehrgeiz fällt auf. Ende der 9. Klasse wird Iveen von ihrer Englischlehrerin angesprochen - ob sie sich vorstellen könnte, sich für ein Stipendium zu bewerben? „Ich konnte es erstmal gar nicht glauben.“
Ein Talentscout der Ruhrtalente - ein Schülerstipendienprogramm, das am NRW-Zentrum für Talentförderung der Westfälischen Hochschule umgesetzt und vom NRW-Schulministerium finanziert wird - lernt Iveen kennen, sie wird Stipendiatin. „Es macht richtig Spaß, ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und lerne sehr viel“, schwärmt Iveen. Mit den Ruhrtalenten war sie bereits in Brüssel, auf Malta - „das war meine erste richtige Reise“ - und zuletzt in Berlin. Dort erhielt die gebürtige Irakerin für ein Video anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes, an dem sie mitgewirkt hat, eine Auszeichnung von Bundesjustizminister Marco Buschmann.
Ruhrtalente fördern nicht nur Einser-Schüler
„Iveen ist außergewöhnlich“, sagt Nadja Walfraff, Programmmanagerin bei den Ruhrtalenten. „Sie ist unheimlich aktiv und engagiert. Nicht nur bei uns, sondern auch im Ehrenamt und in der Familie.“ Über das Centrum für bürgerschaftliches Engagement etwa betreut die 20-Jährige Kinder in Geflüchtetenunterkünften. Das Stipendienprogramm richtet sich an leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, derzeit gibt es 500 Stipendiatinnen und Stipendiaten und etwa genau so viele Alumni. Alle aus verschiedenen Schichten und mit verschiedenen Hintergründen. „Wir definieren Leistungsstärke aber nicht allein über Schulnoten“, so Walraff. Vielmehr würden auch außerschulisches Engagement, persönliche Kompetenzen, aber auch Hürden berücksichtigt. „Dass Iveen als Stipendiatin für uns infrage kommt, war schnell klar.“
Woher diese Zielstrebigkeit? Iveen lächelt, denkt kurz nach. „Ich will nicht einfach nur existieren. Ich will etwas beitragen, für andere Menschen etwas bewirken.“ Da passt auch der Berufswunsch ganz gut. „Ich möchte gerne Jura studieren und mich auf Menschenrechte spezialisieren.“ Egal ob mit Freunden, Familie, Lehrern oder anderen Stipendianten: „Ich diskutiere gerne und höre mir andere Meinungen an.“ Gute Voraussetzungen, könnte man sagen. „Ich lebe in zwei unterschiedlichen Welten, in zwei Kulturen“, erwidert Iveen. „Und ich denke, ich habe mir das Beste daraus ausgesucht.“
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