Mülheim. In Styrum kaum sichtbar, doch bei Wahlen stark: Auf Spurensuche der AfD im Mülheimer Stadtteil. Diese Antworten geben die Menschen.
Beinahe wäre die „Alternative für Deutschland“ zur Europawahl als stärkste Kraft in Styrum hervorgegangen. Ausgerechnet hier, sagen manche, wo während der Reichstagswahl 1932 die Kommunisten mit 51 Prozent stark waren und die NSDAP mit gerade einmal 11 Prozent die wenigsten Stimmen holte. Wo Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte seit Jahrzehnten miteinander leben. Oder möglicherweise nur „nebeneinander“? Auf der Suche nach Antworten im Norden und Süden des Mülheimer Stadtteils.
Zur besseren Einordnung: 19,16 Prozent der Stimmen holte die AfD in Styrum-Süd, wo sie mit vier Prozentpunkten Abstand zur SPD auf Platz 2 landete. 17,71 Prozent waren es im Styrumer Norden. Dort reichte es mit noch deutlicherem Abstand zur CDU (24,58 Prozent) und SPD (23,74 Prozent) nur für Platz drei. Gemessen an der Wahlbeteiligung - beide Stadtteile zählen zu den dreien, in denen sie mit Werten nahe der 50 Prozent am schlechtesten ausfiel - waren nur 400 (Nord) und 353 (Süd) Stimmen dafür notwendig.
Nur wenige Stimmen reichten in Mülheim-Styrum für den Erfolg der AfD
Nicht einmal ein Zehntel aller möglichen Wahlberechtigten im jeweiligen Wahlbezirk also wählte AfD. Dennoch erreichte sie verhältnismäßig viele Wählerinnen und Wähler gerade im Mülheimer Norden, sprich auch in Dümpten, wo die SPD ihre Hochburgen hat und die Grünen ihre Schwachpunkte. Einen Grund zur Beruhigung geben die Zustimmungen für eine Partei, die inzwischen sogar offiziell unter Verdacht steht, rechtsextrem zu sein und die freiheitliche demokratische Grundordnung infrage zu stellen, deshalb nicht.
Für Tanja Westhöfer-Häde, die im Styrumer Turnverein Kontakt zu vielen Styrumern unterschiedlicher Herkunft hat, ist das Ergebnis erst einmal ein Schock. Selbst wenn sie sagt: „Wir sind echt multikulti in Styrum. Und trotzdem dürfte es uns eigentlich nicht überraschen.“
Migration macht manchen Styrumern Angst
Denn auch hier soll die Migration manchen Styrumern Angst machen. „Manche fragen: Wie sehr sollen wir uns verlieren? Müssen wir Feste wie St. Martin in Lichterfest umbenennen, um gemeinsam feiern zu können?“, nimmt Westhöfer-Häde in Gesprächen in ihrer Nachbarschaft wahr.
Und hält gleichzeitig an der Integration fest: „Wir brauchen dringend mehr Empathie, Verständnis und Respekt für Geflüchtete. Wir müssen auf ihre Stärken gucken und die Hand ausstrecken.“
Peter Behmenburg vom Styrumer Netzwerk der Generationen sieht im Wahlergebnis einen Weckruf: „Das Miteinander funktioniert praktisch und im Großen und Ganzen. Aber gefühlt ist das für manchen so: fremd, nicht ernst genommen mit seinen Problemen.“ Behmenburg will das Abschneiden der AfD in der nächsten Styrumer Stadtviertelkonferenz zum Thema machen.
Unterwegs in Mülheim-Styrum: AfD optisch kaum präsent, aber...
Und im Stadtteil Styrum? An der Fröbelstraße windet sich eine regennasse Deutschlandflagge aus einem Fenster. Irgendjemand hat ein Plakat der Grünen abgerissen und am Sültenfuß-Platz in einem Einkaufswagen entsorgt. „Mach Nazis ein Kreuz durch die Rechnung“, steht darauf.
„Alles, nur nicht die Grünen“ - das vermutet auch eine Frau, die vor dem Sonnenstudio am Platz wartet, als Grund und Botschaft für das schlechte Abschneiden der Grünen im Stadtteil und den starken Gewinn der AfD. Und doch: In keinem anderen Stadtteil - so scheint es - ist die AfD optisch so wenig präsent wie hier. Plakate, Aufsteller - selbst auf der Styrumer Hauptverkehrsader, der Oberhausener Straße, Fehlanzeige.
Ambivalenz zwischen Zusammenleben und dem Gefühl, „die Ausländer sind schuld“
Namentlich will am Montagmittag auch niemand in der Zeitung erscheinen, selbst die nicht, die für das Kreuz bei den Blauen kein Verständnis haben: „Für uns und in unserem Bekanntenkreis kommt das nicht in Frage“, sagt eine Styrumerin, die ihr Enkelkind zum Kinderarzt bringt. Doch sie kennt Menschen, die die AfD gewählt haben, „weil sie sich benachteiligt fühlen“. Ausländer bekämen alles bezahlt, Rentner müssen alle Kosten selbst tragen. Das sei ein Gefühl, das manche äußerten.
Und spricht man mit Menschen auf der Straße, fällt eines auf: Jeder hat so seine Geschichten zum Thema „Ausländer“. Ein Handwerker erzählt von einem Fahrraddiebstahl, den er zufällig beim Warten auf seine Frau erlebt hat: „Der Mann hat ein abgeschlossenes E-Bike getragen, dann hat er den Korb vom Gepäckträger geworfen. Das hat mich stutzig gemacht.“
Als der Handwerker den Mann auf das Rad anspricht, habe der fest und steif behauptet: „It‘s mine“ - das ist meins. Der Handwerker aber habe nicht locker gelassen, die Polizei gerufen und der vermeintliche Besitzer daraufhin das Weite gesucht. Die Polizei kam - schon mit der eigentlichen Besitzerin. „In meinem Bekanntenkreis wählen einige die AfD“, sagt er. Mancher aus Protest, aber nicht alle. „Und die gewinnen Sie auch nicht mehr zurück.“
Trotz vieler Angebote: „Manche bleiben unter sich“
Für Knut Binnewerg, der in Styrum den Bürgerbus initiiert hat und auch fährt, gehört das Moppern über „Ausländer“ beinah schon zum Alltagsrauschen, das er aus der Fahrerkanzel wahrnimmt. Manches erscheint ihm fast schizophren oder zumindest „ambivalent. Man lebt mit seinem ausländischen Nachbarn zusammen, trinkt Kaffee und unterhält sich - alles ist wunderbar. Aber wenn dann irgendwo Müll rumliegt, wenn man einen Schuldigen sucht, dann waren das ‚die Ausländer‘.“
Natürlich gibt es auch für Binnewerg, der seit 50 Jahren in Styrum lebt, manches Problem: „Aber wir sind der ärmste Stadtteil mit vielen Kindern, früher sagte man ,Halbstarke‘. Und es gab auch immer Ecken, wo Leute rieten: Da darfst du nicht hingehen. Daran müsste man sich doch schon gewöhnt haben.“ Was für Binnewerg tragisch ist: „Wir haben viele Menschen, die in Styrum Angebote machen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Stadtviertelkonferenz, Bürgerbus, Netzwerk der Generationen, Sportvereine - und doch bleiben offenbar manche für sich.“
Styrumer Mutter: „Wir als Gesellschaft müssen uns kümmern“
Heißt der Schlüssel für weniger Spaltung vielleicht mehr Aufklärung? Daniela Heimann, engagierte Mutter in der Stadtviertelkonferenz, machte es zunächst „fassungslos, dass so viele junge Leute offenbar auch AfD gewählt haben sollen. Bisher kannte ich solche Protestwahlen nur von Älteren.“ Für Heimann ist daher klar, dass „wir uns als Gesellschaft mehr um demokratische Aufklärung kümmern müssen“.
Demokratie müsse wieder stärker Teil der Erziehung werden, „am besten schon in der Grundschule.“ Denn auch da könne man altersgerecht etwa über Wahlprogramme sprechen. „Zum Beispiel in den Auswirkungen. Wenn ich einem Kind erkläre, dass manche Parteien wollen, dass seine Spielfreunde in andere Länder geschickt werden sollen, macht es große Augen.“
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