Kreis Wesel. Die Zahl der Menschen mit Depressionen ist im Kreis Wesel weiter sehr hoch. Experten gehen von einem Anstieg in den nächsten Jahren aus. Die Gründe:

Die seelische Last in der Gesellschaft muss immens sein. Das belegen Zahlen im neuen „Gesundheitsatlas Depression“ der AOK. Demnach leiden im Kreis Wesel rund 58.000 Menschen unter Depressionen. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung im Kreis liegt laut Studie bei 13,78 Prozent und bleibt damit weiter auf einem hohen Niveau.

Für Fachleute ist diese Entwicklung nicht überraschend. Zum einen habe sich das öffentliche und auch medizinische Bewusstsein für diese psychische Erkrankung geändert, zum anderen sei der gesellschaftliche Druck gestiegen, sagt Maria Nienhaus-Schuster, leitende Psychologin im St.Vinzenz-Hospital in Dinslaken, das auch eine Tagesklinik in Wesel betreibt. Corona, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, Inflation und Zukunftsängste belasteten die Menschen zunehmend, so Nienhaus-Schuster.

Depressionen im Kreis Wesel: Experten rechnen mit Anstieg in den kommenden Jahren

Immer häufiger sind junge Menschen betroffen. Für diese Zielgruppe hat das St.Vinzenz die Adoleszentenstation eingerichtet, auch dort habe die Zahl der an Depressionen erkrankten jungen Erwachsenen in den letzten Jahren zugenommen, so die Psychologin weiter. Die Unsicherheit in dieser Bevölkerungsgruppe sei riesig. Die Angst, den Lebensstandard nicht halten zu können, der medial erzeugte Körperkult und das andauernde Entsprechen von Schönheitsidealen nennt Maria Nienhaus-Schuster unter anderem als Auslöser. Bei älteren Menschen sind vor allem gesellschaftliche Ängste vorherrschend, etwa die Sorge vor dem Rechtsextremismus.

„Generell nimmt der Stress in der Gesellschaft zu“, sagt Nienhaus-Schuster. Das nimmt auch Andreas Tiggelbeck wahr. Er ist Koordinator des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Wesel. Der Dienst ist quasi die erste niederschwellige Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Problemen im Kreis, wenn sie noch nicht wissen, was ihnen fehlt. Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, psychologische Fachkräfte und Psychiater helfen bei allen psychischen Belastungen.

Man sei telefonisch erreich- und auch sofort ansprechbar, sagt Tiggelbeck. Eine Krankenkassenkarte sei nicht nötig, und die anonyme Beratung sei auch möglich. „Man kann anrufen, eine E-Mail schreiben oder einfach persönlich bei uns vorbeikommen“, so Tiggelbeck weiter. Dieses Angebot nehmen immer mehr Menschen an. Im vergangenen Jahr hätten sich insgesamt 1700 Personen gemeldet, sagt der Koordinator. „In rund 20 Prozent der Fälle wurde eine Depression diagnostiziert.“ In beiden Fällen sei die Tendenz stark steigend. Sowohl Tiggelbeck als auch Maria Nienhaus-Schuster gehen davon aus, dass die Zahlen in den kommenden Jahren weiter wachsen. Vor allem bei den Patientinnen und Patienten zwischen 17 und 25 Jahren.

„Viele Symptome nicken wir weg“

Andreas Tiggelbeck
Koordinator des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Kreis Wesel

Andreas Tiggelbeck rechnet in den nächsten fünf bis sechs Jahren mit einem starken Anstieg der Fallzahlen. Der Grund: „Von der Realisierung, dass man ein Problem hat, bis zum Zeitpunkt, an dem man sich Hilfe holt, vergehen durchschnittlich sieben Jahre“, erklärt der Sozialarbeiter und systemische Berater. Es gebe viele Menschen, die Symptome zeigten, die aber zunächst nicht als Depression erkannt würden. „Viele Symptome nicken wir weg“, so Tiggelbeck, „bis ein richtiger Hilfepunkt erreicht wird.“

Immer mehr Menschen in der Depression – das belastet auch das medizinische System. Man habe im Kreis Wesel eine gute Basisversorgung, „aber die Kolleginnen und Kollegen sind überlastet“, sagt Maria Nienhaus-Schuster. Die durchschnittlichen Wartezeiten bei niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten liegen für Neupatienten zwischen sechs und zwölf Monaten.

Kliniken wie das St. Vinzenz sind bemüht, zu helfen, stoßen aber auch an ihre Grenzen. „Wir weisen niemanden ab, der es wirklich nötig hat“, sagt Psychologin Maria Nienhaus-Schuster, sie bekräftigt aber auch, dass es sich bei der Depression nicht lediglich um eine Laune handelt. „Wir sprechen von einer Erkrankung und keiner Stimmung.“ Für diese Erkrankung müssten entsprechende Symptome vorliegen und über einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen bestehen.

Depressionen: Symptome, Zahlen, Hilfe

Für die Diagnose einer depressiven Störung gibt es das internationale Klassifikationssystem ICD-10. Hauptsymptome sind eine depressive, gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freudlosigkeit sowie die Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Für die Diagnose müssen mindestens zwei der Hauptsymptome über einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen bestehen. Bei schweren depressiven Episoden könne eine Diagnose aber auch früher gestellt werden. Zusatzsymptome kategorisieren die Schweregrade der Depression, von leicht, über mittelgradig bis schwer.

Das St.Vinzenz Hospital betreut laut eigener Aussage in Dinslaken jährlich rund 1500 Patientinnen vollstationär sowie etwa 600 teilstationär und „weit über“ 3000 Patientinnen und Patienten ambulant. Am Standort Wesel werden jährlich etwa 200 Personen teilstationär und über 1400 ambulant versorgt.

Der Sozialpsychiatrische Dienst ist rechtsrheinisch unter 0281/207-7526 und linksrheinisch unter 02841/202-1138 zu erreichen. Informationen unter: www.kreis-wesel.de/sozialpsychiatrischer-dienst

Die langen Wartezeiten überraschen Andreas Tiggelbeck nicht. Für ihn ist das Kreisgebiet unterversorgt. Kreisweit gebe es rund 100 niedergelassene psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Kassensitz, hinzu kämen 15 Psychiater, die im Kreisgebiet aber sehr ungleich verteilt seien. Von einer ausreichenden Versorgung könne man nicht sprechen, vor allem für junge Erwachsene müsse noch mehr getan werden, weil sie beim Übergang von der Jugend- in die Erwachsenentherapie in zwei völlig unterschiedliche Betreuungssysteme wechseln müssten. Diese erreiche man häufig nicht mehr.

Der Kreis hat das Problem bereits aufgegriffen und mit Ina Küppersbusch eine Koordinatorin eingestellt, die sich seit Anfang des Jahres für die Vernetzung, Kooperation und den Austausch von Fachkräften der freien und öffentlichen Jugendhilfe, der Gemeindepsychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Erwachsenenpsychiatrie, Suchthilfe und dem Sozialraum im Kreisgebiet einsetzt.

Glaubt man den Fachleuten, wird dieser Austausch in den kommenden Jahren dringen notwendig sein.