Kleve/Aus den Niederlanden. Ein Mann wird in einem niederländischen Unternehmen vom Gabelstapler überfahren. Nach dem Arbeitsunfall warf ihn die Firma aus der Klever Wohnung.
Jiri Buchar beißt die Zähne zusammen. Jeder Schritt schmerzt ihn, er atmet schwer. Knapp drei Monate ist es her, als ein Gabelstapler auf der Arbeit über seine Beine fuhr und sie ihm brach. Noch immer spürt er einige Zehen nicht, die Gelenke schmerzen, noch immer muss er Krücken zur Hilfe nehmen. „Mein Leben ist kaputt“, sagt er auf Englisch im Gespräch mit der NRZ. Denn: Seinen Job als Leiharbeiter in einem niederländischen Betrieb ist er los – und seit Montag auch seine Wohnung.
Der 53-Jährige kam mit seiner Frau aus Tschechien, um in den Niederlanden zu arbeiten, weil er dort das Doppelte verdient als in seinem Heimatland. Für seinen Job als Fahrer in einer niederländischen für die Fleischindustrie tätigen Firma erhielt er 2000 Euro pro Monat, sagt er. Davon aber behielt die Leiharbeitsfirma direkt 400 Euro als Miete für ein Zimmer in einer Sammelunterkunft für Leiharbeiter in Kleve ein.
400 Euro werden vom Lohn für die Miete einbehalten
Es ist dieses Modell, das für Probleme in den Städten der Grenzregion sorgt. Die Leiharbeitsfirmen lassen günstige Immobilien in Deutschland aufkaufen, um dort viele Wanderarbeiter unterzubringen. Das Geld für die Miete, auch für die Fahrt zum Betrieb oder gar die Nutzung der Waschmaschine, behält das Unternehmen direkt ein. Das ist für sie lukrativ.
In den Niederlanden sind Lohnabzüge für Miete und Gesundheitsfürsorge bis zu 25 Prozent zulässig – vorausgesetzt, die Wohnbedingungen sind angemessen. Die Unterbringung in Deutschland erschwert es den niederländischen Behörden aber, ihre Gesetzesvorschriften zu überprüfen. Die Kopplung von Arbeitsvertrag und Unterkunft bringt die Wanderarbeiter durchaus in eine große Abhängigkeit. In Jiris Fall mit fatalen Folgen.
Auch Jiri berichtet davon, dass er gemeinsam mit seiner Frau in nur einem Zimmer untergebracht war – für 800 Euro. Auf zwei Etagen seien zehn Leiharbeiter untergebracht. Das bringt dem Vermieter entsprechend 4000 Euro für fünf Zimmer pro Monat. Jiri und seine Frau wollten sich zunächst etwas Geld ansparen, um sich dann eine eigene Wohnung zu suchen. Doch dazu kam es nicht mehr.
Krankenschwester schenkt dem Mann Geld fürs Taxi
Nach seinem Arbeitsunfall kam er ins Krankenhaus, bekam beide Beine eingegipst und konnte sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Nur weil ihm eine Krankenschwester 60 Euro für ein Taxi in die Hand drückte, konnte er zurück in sein Ein-Zimmer-Quartier nach Kleve. Seine Frau pflegte ihn, die zierliche Person musste ihm aus dem Rollstuhl auf die tiefe Matratze und wieder hoch helfen, musste ihn waschen und einkaufen.
Eines Tages habe ihr Chef vor ihrer Wohnung gestanden und sehr aggressiv“ gegen die Tür gehämmert, wie Jiri schildert. Seine Frau solle wieder arbeiten kommen. Doch wie sollte das gehen? Die Leiharbeitsfirma hat sich auf Anfrage der NRZ am Freitag bislang nicht zu dem Fall geäußert.
Am Montag hämmerte es wieder an der Tür, fünf Männer hätten dem Ehepaar klargemacht, dass es nicht mehr gebraucht werde, und es aus der Wohnung geworfen. Jiri und seine Frau standen vor einem Scherbenhaufen, von jetzt auf gleich waren sie obdachlos, hatten kein Einkommen mehr, keine Medikamente für Jiri.
Nur dank des Einsatzes der Nachbarschaft, einer Hilfsinitiative und durch das Wohlwollen des Bürgermeisters Wolfgang Gebings, durfte das Ehepaar vorübergehend in eine Obdachlosenunterkunft in Kleve ziehen.
Leiharbeitsverträge in den Niederlanden könnten recht schnell gekündigt werden, nur ab einer gewissen Anstellungsdauer oder mit einem Festvertrag seien Arbeitnehmer deutlich besser geschützt, erklärt Wilco Veldhorst von der Gewerkschaft FNV gegenüber der NRZ.
Stadt kontrolliert die Sammelunterkunft in Kleve
Die Sammelunterkunft in Kleve ist am Donnerstag „aufgrund eines entsprechenden Hinweises aus der Bevölkerung“ durch die Stadt kontrolliert worden. Die Mitarbeiter überprüften, ob ordnungs- und bauordnungsrechtliche Vorschriften eingehalten werden. „Etwaige festgestellte Mängel sind durch den Eigentümer des Gebäudes zu beheben“, erklärt ein Stadtsprecher auf NRZ-Anfrage.
Generell gingen in unregelmäßigen Abständen Beschwerden über Leiharbeiterunterkünfte bei der Stadt Kleve ein, schildert der Sprecher weiter. „Auf diese Weise wurden in den vergangenen Jahren diverse Unterkünfte kontrolliert und auch in naher Zukunft stehen weitere Kontrollen an.“ Missstände seien nach der Überprüfung der Unterkünfte durch die jeweiligen Eigentümer unverzüglich beseitigt worden.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer für Jiri und seine Frau
Das NRW-Wohnraumstärkungsgesetz gibt den Kommunen die Möglichkeit, härter durchzugreifen und zum Beispiel ein Betriebskonzept für eine Unterkunft vom Vermieter zu verlangen. In dem Kontext gab es in den vergangenen Monaten immer mal wieder großangelegte Razzien in den Kreisen Kleve und Borken, an denen auch der niederländische Arbeitsschutz beteiligt war. „Dieser Fall zeigt, wie menschenunwürdig und kriminell die die Leiharbeitsfirmen zum Teil ihre Strukturen aufgebaut haben. Deshalb ist es umso wichtiger, diese Mafia-Methoden zu zerschlagen. Aus diesem Grund führt die Landesregierung, auf Basis des Wohnraumstärkungsgesetzes, zusammen mit den Niederlanden und den Kommunen länderübergreifende Grenzkontrollen durch“, erklärt ein Sprecher des Bau- und Kommunalministeriums NRW auf NRZ-Anfrage.
Jiris Fall mag ein Härtefall sein, aber er ist kein Einzelfall, wie die deutschen und niederländischen Gewerkschafter bestätigen. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) weiß, dass Arbeitsmigranten von Obdachlosigkeit betroffen sind. „Nach unserer Schätzung haben in Deutschland rund 40.000 Menschen aus dem EU-Ausland keine Wohnung. Das sind etwa 17 Prozent der regulär Wohnungslosen“, schildert BAG-Fachreferent Andreas Pützer. Die „Straßenobdachlosigkeit“ sei stark durch die EU-Binnenzuwanderung und durch die Zuwanderung aus Drittstaaten geprägt.
Zumindest Jiri und seine Frau müssen nun nicht auf der Straße schlafen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die niederländische Gewerkschaft FNV, die grenzübergreifend zusammenarbeiten, haben Jiri geholfen, seiner Frau einen Job vermittelt und beiden eine Wohnung besorgt. Am Montag werden sie erst einmal in die Niederlande ziehen. Es ist ein leiser Hoffnungsschimmer für das Ehepaar.