Kleve.. Das Landesjugendamt will Lehren aus dem Fall Greta ziehen: Allein in einer Kempener Kita gab es vier Rettungseinsätze, die nicht gemeldet wurden.
Das Landesjugendamt Rheinland zieht nach dem Tod der dreijährigen Greta in Viersen eine erste Konsequenz: Künftig sollen sämtliche Notarzteinsätze in Kindertagesstätten meldepflichtig sein. Das teilte der leitende Dezernent Lorenz Bahr am Donnerstag bei einer Sondersitzung des Familienausschusses im Landtag mit.
Das Mädchen hatte am 21. April in ihrer Kindestagesstätte einen Atemstillstand erlitten und war ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo es am 4. Mai starb. Zwei Wochen später wurde eine 25-jährige Erzieherin unter Mordverdacht festgenommen. Sie wird verdächtig, für Attacken auf Kinder in drei anderen Kitas verantwortlich zu sein, in denen sie vor ihrer Anstellung in Viersen beschäftigt war.
Kitas hatten Vorfälle nicht ans Landesjugendamt gemeldet
Auch in diesen Einrichtungen in Kempen, Krefeld und Tönisvorst war es teils mehrfach zu Notarzteinsätzen gekommen, weil Kinder unter Atemstillstand litten, jedoch hatten die Kitas diese Vorfälle nicht an das Landesjugendamt gemeldet. „Wenn uns das gemeldet worden wäre, wäre uns der Zusammenhang möglicherweise aufgefallen“, so Lorenz Bahr. Das Landesjugendamt prüft, ob sich die Einrichtungen einer Meldepflichtverletzung schuldig gemacht haben.
„Es zeichnet sich ab, dass etwas Unvorstellbares passiert ist“, sagte Landesfamilienminister Joachim Stamp (FDP) zu Beginn der Sondersitzung des Familienausschusses. Er sei „tief erschüttert und schockiert“ über das „unfassbare Leid“, dass den Eltern und Angehörigen Gretas widerfahren sei. Stamp drängte auf eine „lückenlose und transparente Aufklärung“ des Falls.
Gravierende Versäumnisse wurden deutlich
Bei der Sitzung wurden gravierende Versäumnisse gleich an mehreren Stellen deutlich: Schon in ihrem einjährigen Berufspraktikum in einer Krefelder Kita hatte sich gezeigt, dass Sandra M. für den Erzieher-Beruf nicht geeignet war. Das dortige Jugendamt habe dem Rhein-Maas-Berufskolleg in Kempen geraten, sie nicht zum Kolloquium, dem Prüfungsgespräch zuzulassen, teilte Landesjugendamts-Chef Bahr den Ausschussmitgliedern mit.
Wieso dies dennoch geschah, ist offen. Die Schulleitung wollte sich auf Anfrage unserer Redaktion nicht zu dem Fall äußern. Sie habe eine entsprechende Dienstanweisung von der Bezirksregierung erhalten. Das Landesjugendamt hat jetzt das Gutachten der Stadt Krefeld zu Sandra M. eingefordert, das an das Berufskolleg weitergeleitet wurde.
Gefährdung des Kindswohl: landesweit 1467 Meldungen
Zweitens unterließen es die Kitas in Krefeld, Kempen und Tönisvorst, in denen die junge Frau vor ihrer Anstellung in Viersen beschäftigt war, Notarzteinsätze an das Landesjugendamt zu melden. Warum dies nicht geschah, wird jetzt laut Bahr geprüft. Grundsätzlich müssen dem Landesjugendamt sämtliche Vorfälle gemeldet werden, die auf eine mögliche Gefährdung des Kindswohls hindeuten. Im vergangenen Jahr gab es laut Bahr landesweit 1467 solcher Meldungen, nur eben keine von den Einrichtungen, in denen Sandra M. arbeitete – bis auf die aus Viersen.
Drittens meldete die Staatsanwaltschaft Kleve nicht, dass Sandra M. unter psychischen Problemen litt. Gegen die junge Frau war im Mai 2019 wegen des Vortäuschens einer Straftat ermittelt worden. Sie hatte behauptet, in einem Wäldchen in Walbeck von einem Mann attackiert worden zu sein. Tatsächlich hatte sie sich selbst Verletzungen im Gesicht zugefügt. Ihr wurde von einer Gerichtsmedizinerin angeraten, dringend psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Klever Oberstaatsanwalt sprach Ermahnung aus
Dies hätte die für den Fall zuständige Staatsanwältin in Kleve zwingend weitergeben müssen, was aber nicht geschah. Der Klever Oberstaatsanwalt habe deswegen eine Ermahnung ausgesprochen, berichtete für das Justizministerium Ministerialdirigent Christian Burr. Er betonte, man werde die Staatsanwaltschaften für solche Fälle stärker sensibilisieren. Dennis Maelzer, der familienpolitische Sprecher der SPD, der die Sondersitzung beantragt hatte, kritisierte im Anschluss an die Sitzung, dass die Klever Staatsanwaltschaft nicht zum ersten Mal auffällig geworden sei. Im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach hatte es die Staatsanwaltschaft auf eine Hausdurchsuchung nach der Selbstanzeige eines Soldaten aus Wesel verzichtet, der seine Tochter und seinen Stiefsohn missbraucht hatte. Der Mann missbrauchte nach der Selbstanzeige im Juni 2019 seine Nichte. Was in Kleve schiefgelaufen sei, „muss aufgeklärt werden und Konsequenzen haben“, so Maelzer.
„Es hat erkennbar Versagen gegeben“, erklärte Landesfamilienminister Stamp. Das Thema Kindswohlgefährdung müsse im Zusammenspiel der Behörden stärker in den Fokus genommen werden. Stamp warnte aber, angesichts dieses Falles die Qualität und Integrität der in NRW arbeitenden Erzieherinnen und Erzieher generell in Frage zu stellen. Sie leisteten „hochwertige und liebevolle Arbeit“, so der Minister.
Möglicherweise zweites Kind in Kempen misshandelt
Landesjugendamts-Leiter Bahr warb zudem für eine Veränderung der Zuständigkeiten bei der Aufsicht der Kitas. Bislang sind dafür die Träger der Einrichtungen zuständig, das Landesjugendamt kann nur anlassbezogene Kontrollen durchführen.
Ebenfalls am Donnerstag teilte die in dem Fall ermittelnde Polizei in Mönchengladbach mit, dass Sandra M. möglicherweise in Kempen, wo sie zwischen August 2018 und Juli 2019 beschäftigt war, ein zweites Kind misshandelt haben könnte.