Essen. Die aktuelle Bevölkerungsstatistik nach dem Zensus 2022 sieht Bremen knapp vor Essen, das von der 600.000er-Marke weiter weg ist als gedacht.
Als Angelika Gerzen am 26. Juli 1956 das Licht der Welt erblickte, da ließ sich Essens damaliger Oberbürgermeister Hans Toussaint nicht lumpen: Zur Gratulation am Wochenbett brachte er ein Sparbuch mit 700 D-Mark als Präsent vorbei, dazu einen Strauß Nelken für die Mama und drei Flaschen Rotwein für den Papa, denn die kleine Angelika war Essens 700.000 Bürgerin. Was immer auch Thomas Kufen plant, wenn diese Stadt nach einem beispiellosen Einwohner-Verlust über Jahrzehnte wieder die 600.000er Marke anpeilt – er kann sich damit Zeit lassen. Denn laut dem jüngsten Zensus zählt Essen nicht etwa jene mehr als 590.000 Einwohner, die die städtischen Statistiker registrieren, sondern 20.000 Menschen weniger. Und rutscht damit aus der Top Ten der bundesdeutschen Großstädte. Wie bitte?
Im Essener Amt für Statistik haben sie für alles eine Zahl – aber keine Erklärung für den Einwohner-„Verlust“
„Keiner kann das nachvollziehen“, sagt einer, der es von Berufs wegen nachvollziehen müsste: Christoph Ehlert, Leiter des Amtes für Statistik und Wahlen, pflegt mit seinen Leuten die städtische Einwohner-Statistik, und wiewohl er weiß, dass es „in jedem Register Karteileichen gibt“, logisch – allzu weit wähnt er die Einwohnerzahl Essens nicht von jenen 596.246 Menschen entfernt, die das verfügbare Zahlenwerk zum 31. März ausgewiesen hat: 304.595 Frauen und 291.651 Männer, etwa 101.000 unter 18 Jahren und 129.000 im Alter von 65 und darüber, und dies noch: 70.651 Doppelstaatler und 120.033 Nichtdeutsche. Sie haben am Kopstadtplatz für alles eine Zahl.
Und jetzt den Salat, denn zwischen dem Zensus und der Zählweise im hiesigen Amt öffnet sich die Schere zusehends. So wies der Zensus des Jahres 2011 für Essen eine Einwohnerzahl von gut 566.200 Menschen aus. Die städtische Kartei notierte damals dagegen knapp 569.900, ein Unterschied, der sich verschmerzen ließ. Elf Jahre später aber wächst der Abstand plötzlich auf fast 20.000 Personen an: 571.039 statt jener 590.745, die Essen just zum Zensus-Stichtag, dem 15. Mai 2022 registriert hatte.
Es herrscht Rätselraten bei den Fachleuten in Essen: „Finden wir einen systematischen Fehler?“
Dabei gibt es niemanden, der das ganze Stadtgebiet von Tür zu Tür durchkämmt hat, wie man es bei einer Vollerhebung gemacht hätte. Vielmehr gründen die Zahlen auf einer Stichprobe, wobei derzeit niemand erklären kann, wie diese hochgerechnet wurde. „Die Anhörung startet erst nach den Sommerferien im September“, weiß Ehlert, bis dahin bleibt ihm auf die Frage, wie es zum Einwohnerschwund am grünen Tisch kam, nur Achselzucken: „Das ist sehr unbefriedigend.“
Und gleichzeitig verteidigt der Chef-Statistiker der Stadt selbstbewusst die eigenen Berechnungen: „Ich traue unseren Meldedaten.“ Und wenn es auch Hinweise gibt, dass der Großteil des Fehlbestands womöglich aus dem Kreis der Nichtdeutschen resultiert, fehlt allen die Phantasie, was denn geeignet sein könnte, dieses Vertrauen in einem solchen Umfang zu erschüttern. Für Ehlert lautet deshalb die Frage: „Finden wir einen systematischen Fehler?“
Auch andere Städte müssten laut Zensus drastische Einwohner-Verluste beklagen: allen voran Berlin
Der Streit der örtlichen mit den Zensus-Statistikern ist bei alledem nicht neu: Schon 2011 hatte die Stadt Essen gemeinsam mit anderen Kommunen gegen die Zensus-Zahlen geklagt – letztlich erfolglos. Gut möglich, dass man sich in Sachen Zensus 2022 wieder vor Gericht sieht, denn auch andere Großstädte beklagen teils beachtliche Einwohner-Verluste in der Statistik: Anteilig hat unter den 15 größten deutschen Städten Köln mit 5,9 Prozent die größten Verluste seit 2011 zu beklagen, in absoluten Zahlen trifft es Berlin: Der Hauptstadt gingen vermeintlich fast 129.000 Einwohner verloren.
Niemand steigt gern ab, das gilt nicht nur für den Fußball. Für Essen aber, bis in die 1980er Jahre oft verkannte fünftgrößte Stadt der Republik, wäre es sogar der sechste Abstieg in Folge: Ende der 1980er drängelte sich Frankfurt am Main vor, dann folgten Stuttgart und Dortmund, schließlich Düsseldorf und zuletzt Leipzig.
An den Einwohnerzahlen orientieren sich auch die wichtigsten Zuschüsse aus dem Landes-Etat
Noch nicht ermittelt ist die Zahl der Werbe-Broschüren, aus denen man die Formulierung, „Essen gehört zur Top Ten der deutschen Großstädte“ tilgen müsste, aber am Ende geht es eben nicht nur um kommunale Eitelkeiten und Marketing-Floskeln, sondern auch um bare Münze. Denn einen nennenswerten Teil ihrer Einnahmen erhält die Stadt Essen aus den sogenannten „Schlüsselzuweisungen“ des Landes. Und die orientieren sich nicht etwa an der städtischen Einwohner-Statistik, sondern an der offiziellen Zahl, die der Zensus festlegt. Auch deshalb setzen in Essen alle darauf, dass die nicht amtlich werden.