Essen. Unterschätzt zu werden als Chance: Lehrerin Julia Klewin (40) will der Gegenentwurf zum amtierenden Essener Oberbürgermeister sein.
„Rot oder blau?“ Bei dieser Frage stutzt sie dann doch kurz: „Wie jetzt, rot oder blau?“ Na, welches Wunder wir in Essen mit ihr als OB-Kandidatin der SPD erleben? Ein rotes, so wie es vor vier Jahren Oliver Kern als Bewerber der Sozialdemokraten noch wenige Tage vor der Wahl großspurig versprach? Oder ein blaues, so wie es der Urnengang an jenem September-Sonntag den niedergeschlagenen Genossen dann tatsächlich bescherte? Julia Klewin lächelt ein wenig gequält. Und sie sagt dann, was frau halt so sagen muss, wenn sie sich erst mal auf eine solche Frage eingelassen hat: „Rot natürlich.“
Sie wusste, das sowas kommt. Dass sie sicher auch auf Skepsis stoßen wird, außerhalb der Partei, aber vielleicht sogar mittendrin. Schon als sie kürzlich im sozialen Netzwerk Instagram ihre Kandidatur bekanntgab – keineswegs zufällig übrigens just am Internationalen Frauentag – da kommentierte die 40-jährige Rüttenscheiderin die nachfolgende Berichterstattung mit augenzwinkernder Verwunderung: „Ich war überrascht, dass da nicht von Anfang an stand: Die hat ja eh keine Chance.“ Denn gut 54 zu 20 Prozent – das war der Abstand, mit dem Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) 2020 seinen ärgsten Herausforderer Oliver Kern (SPD) regelrecht deklassierte. Wer ist die Frau, die glaubt, fünf Jahre später lägen für sie die Dinge anders?
Sozialdemokratin seit „Gerhard Schröder die Wahlen verloren hat“
Biografisches zum Anfang also, sie spult das souverän ab: Geboren 1983 in Velbert, die Mutter Arzthelferin, der Vater Kfz-Mechaniker, der Opa in der Schwerindustrie: Von ihm bekommt sie das positive Bild der Gewerkschaft mit auf den Lebensweg und das Geld für Bücher, es funktioniert: Schon im Kindergarten verkleidet sich Klein-Julia als Schulkind, macht das Abitur, will Lehrerin werden, studiert an der Bergischen Universität in Wuppertal Englisch und Sozialwissenschaften und lässt sich dabei reichlich Zeit: 14 Semester.
Auch interessant
Zu den Sozialdemokraten kommt sie 2005, „als Gerhard Schröder die Wahlen verloren hat“, macht bei den Jungsozialisten in Velbert mit und dort flugs Karriere: Jung und weiblich, solche Leute sind genau das, was die spürbar überalterte SPD (wie auch die CDU) hier wie andernorts gut gebrauchen kann. Ein bisschen „Ochsentour“ bleibt dabei auch ihr nicht erspart, „das Übliche halt“: mitarbeiten im Ortsverein, im Juso-Landesvorstand, Ratsarbeit in der Nachbarstadt und dazu 2013 ein bisschen Berliner Luft schnuppern, als sie übergangsweise ein paar Monate für die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese jobbt.
Dann folgt das Referendariat an der Velberter Gesamtschule, 2014 der Wechsel an die Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Essen-Schonnebeck, und an dieser Stelle könnte für eine Lehrerin in herausforderndem Umfeld die politische Karriere durchaus schon zu Ende sein. Zumal wenn einem der Anfang nicht so leicht fällt, bei dem sie sich selbstironisch in der Erinnerung noch als die „blonde Kartoffel“ vor einer Schülerschaft sieht, die zu 60, teils auch 70 Prozent eine Zuwanderungs-Geschichte hat.
Aber sie wollte genau diese Arbeit in genau dieser Atmosphäre, mit dem Erleben von Armut und mancher Sprachbarriere: „Es klingt etwas ideologisch, aber ich wollte was bewirken“, sagt Klewin: „Justus und Sophie kommen auch ohne mich klar.“ Stattdessen also Kevin und Mohamed – Jesses, das klingt nach einem gerüttelt Maß an Vorurteilen, aber manches davon findet sie im Alltag absolut bestätigt. Sie macht den Job nach eigenem Bekunden „mit Leib und Seele“, wohl wissend, „dass ich nicht alle retten kann“ – und ist nach Feierabend „jedenfalls nicht die erste, die die Schule verlässt“. Sie wird zur Oberstudienrätin befördert.
Den Job als Lehrerin macht sie „mit Leib und Seele“, doch ohne Politik ging es dann doch nicht
Aber „es ging dann doch nicht ohne“. Ohne Politik. Weil für sie „die Sozis doch ein guter Haufen sind“, wie sie es formuliert. Eine Partei, die Nerven kostet, aber aus der man sie nicht rauskriegt. 2016 wird sie Vorsitzende der knapp 200 Genossen in Rüttenscheid, tritt bei der Kommunalwahl 2020 an und landet, weil die Sozialdemokraten stadtweit ein ziemlich schlechtes Ergebnis einfahren, über die Reserveliste im Rat der Stadt. „Oh, cool“, denkt sie, als sie am Abend die telefonische Nachricht erhält, sie gehöre dem nächsten Stadtparlament an, „ich hab‘ nicht damit gerechnet“. Sie freut sich, denn „es macht mehr Spaß als gedacht“, auch wenn Opposition angesichts der schwarz-grünen Mehrheit oft genug frustriert. „Mist“ halt. Müntefering lässt grüßen.
Aber sie macht ihr Wort, kann auch frei sprechen, was im Rat fürwahr nicht jedem gelingt, löst sich ausdrücklich von der Schulpolitik und sucht sich stattdessen gezielt einen Bereich aus, in dem nicht so viele Frauen ihr Wort machen, wird Sprecherin der SPD für Ordnungs- und Gleichstellungspolitik. „Ich bin nicht gut im Zugucken.“ Sie will dabei sein, mitmischen, „ich streite mich auch gerne. Ich bin nicht das kleine Mäuschen, das den Mund hält.“
Dass sie dabei, um im Bild zu bleiben, die Klappe mitunter allzu weit aufmacht, gehört zu den Kollateralschäden einer solchen Haltung. Ein allzu forscher weil ebenso anzüglicher wie beleidigender Post über CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet beim Nachrichtenkurzdienst Twitter (heute „X“) beschert Julia Klewin 2021 ungewollte Aufmerksamkeit und erreicht sogar manchen auf bundespolitischer Ebene. Was sie daraus gelernt hat? „Dass ich alles, was in den sozialen Medien frech sein könnte, erstmal beiseite lege und noch mal darüber nachdenke“, seufzt sie: „Das war ätzend, ich weiß.“ Sie hat sich in aller Form entschuldigt, Schwamm drüber, man lernt nicht aus.
Vielleicht auch deshalb macht Julia Klewin im Sommer 2023 ein vierwöchiges Kommunikations- und Rhetorik-Training, und damit die Sache auch eine unterhaltsame Note hat, kurzerhand in New York, der Stadt, für die sie ein Faible hat. Eine Bude in Midtown und jeden Tag Unterricht nach Stundenplan: Das kostet unterm Strich knapp fünfstellig, erscheint ihr aber als lohnenswerte Investition. Auch für den Fall, dass sie nicht OB werden sollte.
Unterschätzt zu werden, glaubt Julia Klewin, sei das Schicksal der meisten Frauen
Oder halt: rotes Wunder! Also: Alles ist möglich. Und vielleicht dies ihre große Chance: unterschätzt zu werden. Werden Sie unterschätzt, Frau Klewin? Was für eine Frage. „Unterschätzt zu werden“, sagt sie, sei per se das Schicksal der meisten Frauen. Es ist Vor- und Nachteil zugleich, und deshalb sieht sie gute Chancen, im ersten Anlauf bei der OB-Wahl im Herbst kommenden Jahres zu erreichen, was Oliver Kern 2020 nicht gelang: eine Stichwahl um den OB-Posten zu erzwingen.
Denn sie weiß um ihres Hauptgegners Amts-Bonus – in der Bevölkerung und auch bei vielen in der Sozialdemokratie, wo Oberbürgermeister Thomas Kufen durchaus gut gelitten ist. Deshalb wird sie wohl nicht ausdrücklich gegen ihn Wahlkampf machen. „Wahlkampf gegen jemanden zu machen, ist langweilig.“ Sie will für sich werben, für ihre Vorstellung, dass es Zeit sei, auf vielen Feldern anders zu agieren. „Eine Stadt für alle“, das könnte ihr Slogan sein, mal sehen. Frau Klewin bittet den OB zum Tanz, das ginge auch. Sie wäre da womöglich klar im Vorteil, denn Tanzen ist ihre Leidenschaft, früher lateinamerikanisch, heute noch Ballett. Es muss was Wichtiges passieren, dass sie ihre wöchentliche Ballettstunde ausfallen lässt.
So oder so: Es fehlt Julia Klewin nicht an Selbstbewusstsein, und ihr auf internationalerem Parkett deutlich erfahrenerer Ehemann Jens Geier, Europaabgeordneter der SPD, mischt sich nur ein, „wenn ich ihn ausdrücklich um Rat frage“. Klingt, als frage sie nicht allzu oft.
OB Thomas Kufen soll sie „die gefährlichste Frau im Stadtrat“ bezeichnet haben – für Klewin ein Lob
Kufen jedenfalls muss sich auf eine Herausforderin gefasst machen, die sich den klassischen und damit eher gesetzten, manche sagen: betulichen Kategorien entzieht. Die „tierisch Bock darauf“ hat, sich ausdrücklich als Gegenentwurf zu präsentieren, und ihre Kandidatur auf Instagram einem überschaubaren Publikum ankündigt, statt größtmögliche Verbreitung zu organisieren. Aber kommt man mit Guerilla-Taktik ins OB-Büro? „Es war ein Test“, sagt sie halb trotzig, halb entschuldigend. Schauen, was geht.
Irgendjemand hat ihr mal geflüstert, er hätte wiederum über drei Ecken erfahren, dass Thomas Kufen sie jedenfalls als die „gefährlichste Frau im Stadtrat“ bezeichnet habe. Sie hat den Oberbürgermeister nicht gefragt, ob der Spruch wirklich von ihm stammt, obwohl sie sich seit einer gemeinsamen Dienstreise duzen. Vielleicht will sie sich das einfach nicht kaputtmachen lassen.
Denn „wenn es stimmt, würde ich das als Kompliment betrachten“.