Essen. Geringverdiener beutelt die Inflation gerade besonders. Kommen Schulden hinzu, wird die Lage rasch prekär, wie der Fall eines Essener Paars zeigt
Wenn Erika und Andrea Müller* zum Discounter einkaufen gehen, dann sind seit Monaten immer der Schreibblock und der Kugelschreiber mit dabei. Bevor die Lebensmittel im Einkaufswagen landen, schreibt das Ehepaar jeden Preis akribisch auf und addiert. Das gesteckte Budget ist meist schnell aufgebraucht, die vorher geschriebene Wunschliste meist längst noch nicht erfüllt. „Vieles wandert dann wieder ins Regal zurück“, sagt Andrea Müller.
Seit die Lebensmittelpreise durch die Decke gehen, können sich die Eheleute Müller immer weniger leisten. Obst essen sie ohnehin kaum, Süßigkeiten verbieten sie sich meist. Der Waschpulver-Kauf muss schon mal um eine Woche geschoben werden. 40 bis 50 Euro leisten sich die Müllers pro Woche maximal für Lebensmittel. „Sie glauben gar nicht, wie ich nach einem Rinderbraten lechze. Geht aber nicht“, meint Erika Müller. Auch wenn sich die Inflation zuletzt etwas abgeschwächt hat, waren Lebensmittel im April immer noch 17 Prozent teurer als vor einem Jahr.
Eheleute suchen Hilfe bei Essener Schuldnerberater
Die galoppierende Inflation hat die Geldsorgen der Müllers nicht kleiner gemacht. Sie leben von Bürgergeld bzw. Arbeitslosengeld; sind zudem hoch verschuldet. Mit rund 1400 Euro im Monat müssen die beiden auskommen, allein Miete und Strom schlagen mit rund 700 Euro zu Buche. Da bleibe keine Luft mehr, die fällige Kreditrate von 440 Euro im Monat zu bezahlen. 28.000 Euro müssten sie eigentlich noch abstottern, 4000 Euro schulden sie außerdem ihrer früheren Hausbank. „Wir können nicht mehr“, meint Erika Müller.
In ihrer Not haben sich die Eheleute an Volker Naujok gewandt. Der Schuldnerberater der Essener Verbraucherzentrale weiß: „Die Inflation trifft besonders diejenigen, die ohnehin wenig haben.“ Nicht ohne Grund haben die Schuldnerberatungen der Verbraucherzentrale NRW ihre diesjährige Aktionswoche unter das Motto gestellt: „Was können wir uns noch leisten? – Überschuldungsrisiko Inflation“. Sie läuft noch bis Freitag.
Gab es schon vorher Geldprobleme wie bei den Müllers, dann dreht sich die Spirale noch schneller nach unten. Naujok rechnet damit, dass sich die Auswirkungen der hohen Inflation erst richtig in zwei bis vier Jahren zeigen werden und die Zahl der Haushalte mit akuten Geldproblemen steigen wird. „Meistens versuchen die Leute erstmal, sich irgendwie über Wasser zu halten.“ Der Schuldnerberater befürchtet, dass sich viele in ihrer Not mit einem Kredit helfen wollen. „Das aber ist meist der Anfang vom Ende“, warnt Naujok.
„Der Kredit war der größte Fehler“
Krankheit und anschließende Arbeitslosigkeit haben die Müllers in ihre prekäre Lage gebracht. Binnen zwei Jahren sind die beiden auf Existenzminimum gefallen. Erika Müller hatte mit Ende 50 noch einmal erfolgreich zur Busfahrerin umgeschult, arbeitete in einem Unternehmen außerhalb von Essen und verdiente mit knapp 2000 Euro netto im Monat gutes Geld. Dann erlitt sie mit Anfang 60 zwei Schlaganfälle. „Beruflich war’s das“, sagt sie. Ihre Frau Andrea arbeitete viele Jahre im Einzelhandel, erlebte in ihrer letzten Firma aber Mobbing und fand nicht wieder in den Job zurück. Die 63-Jährige war lange krank, ist seit September 2022 arbeitslos.
Die Müllers hatten zwei Kredite über zusammen 35.000 Euro aufgenommen. Das war vor dem ersten Schlaganfall von Erika Müller gewesen. Sie bezahlte davon allein über 10.000 Euro für den Busführerschein. Das Geld sollte außerdem dafür da sein, „um sich mal wieder etwas zu gönnen“. „Im Nachhinein betrachtet, war der Kredit der größte Fehler, den wir machen konnten“, meint Erika Müller heute.
Essener wollen ins Verbraucherinsolvenzverfahren
Zusammen mit Schuldnerberater Volker Naujok werden sie nun nach Lösungen suchen. Die Ratenzahlungen haben sie bereits eingestellt. Pfändbares Einkommen oder Vermögenswerte seien nicht vorhanden, sagt Naujok. Die Bank dürfte daher leer ausgehen. Als nächstes steht ein Check der Einnahmen und Ausgaben an. „Mehr sparen“, so glauben die Müllers jedoch, „geht nicht.“ Schließlich will der Schuldnerberater ein Insolvenzverfahren beantragen – für die Müllers aus seiner Sicht die einzige Möglichkeit, ihre Schulden loszuwerden. Nach drei Jahren, 2026, wäre es soweit.
Im vergangenen Jahr galten über 60.000 erwachsene Essener und Essenerinnen als überschuldet. Die Schuldnerberatung der Essener Verbraucherzentrale kann sich schon seit Jahren vor Beratungsanfragen kaum retten. Die Warteliste ist lang, bis zu zehn Monate Geduld sind gefragt. Für viele ist ein Verbraucherinsolvenzverfahren aber die einzige Möglichkeit, wieder schuldenfrei zu werden. Ohne professionelle Hilfe sei dies aber in den allermeisten Fällen nicht möglich, betont Naujok. Ein Dilemma.
*Namen geändert
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