Rees-Haldern. Im zweiten Teil der Bandvorstellungen zum Haldern Pop Festival 2022 gibt es wieder einige Erlebnistipps. Dieses Mal im Trend: Post-Punk-Bands.
Die NRZ präsentiert das 39. Haldern Pop Festival vom 11. bis zum 13. August. Heute stellt die Redaktion im zweiten Teil der Serie weitere Bands und Künstler für das Event vor – von Anna Calvi über Bad Bad Not Good, Black Midi und Erdmöbel bis Curtis Harding.
So bewertet die NRZ
Zur Erklärung: Für jede Band haben wir ein Erlebnispotenzial bewertet. Über Geschmack lässt sich streiten, deshalb versuchen wir gar nicht erst, die Qualität der Musik zu bewerten. Das soll jeder Zuhörer für sich selbst tun. Wir versuchen, mit dieser Wertung einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieses Konzert für Sie zum Erlebnis werden kann.
Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Ist die Musik leicht zugänglich? Gibt’s Ohrwürmer? Ist es eher eine Nischenband? Könnte der Spielort eine Rolle spielen? Wir haben es uns nicht leicht gemacht und trotzdem werden wir sicher nicht immer recht haben. Es ist eine bescheidene Entscheidungshilfe.
Die düstere Grand Dame Anna Calvi
Freitag, Hauptbühne, 22.45-0 Uhr: Die Italo-Londonerin Anna Calvi war bereits 2011 mit den Liedern ihres Debütalbums beim Festival. Vier weitere Alben und zwei EPs später kommt sie als gestandene Musikerin zurück, feierte einige Albumcharterfolge. Calvi besticht durch eine einnehmende Bühnenpräsenz und eine erhabene, großartige Stimme. Der etwas düstere, melancholische Pop-Rock bringt schon fast den Habitus des Chansons mit sich. Ihr Duett mit David Byrne bei „Strange Weather“ spiegelt dies in Perfektion wieder. Musik als: Bewusstseinserweiterung. Erlebnispotenzial: 4/5
Hörproben: „Ain’t no Grave“, „All the Tired Horses“.
Donnerstag, Kirche, 12.45-13.15 Uhr: Oho. Der Schotte Aaron Smith fällt mit einer herausragenden Stimme auf, die bis zum Falsette eine beeindruckende Bandbreite vorhält. Seine 2022 veröffentlichte Single „Giving Up“ wird manch einen Coldplay-Fan ansprechen. Moderner Pop mit viel Gefühl. Aber eben auch nicht totaler Mainstream und deshalb in Haldern gut aufgehoben. Der Herzschmerz – der Titel „Loveless“ der Debüt-EP 2019 spricht Bände – wird zelebriert. Smith kann man sich sehr vielseitig vorstellen: ganz ruhig in der Kirche, intim in der Pop Bar oder im Spiegelzelt, aber auch auf der großen Bühne mit einem Meer aus Feuerzeugen vor der Bühne – heutzutage wohl eher Handy-Licht. Musik für: alle, die hoffen, dass es ihnen danach besser gehen könnte. Erlebnispotenzial: 5/5
Hörproben: „Unspoken“, „Unconditional“.
Donnerstag, Spiegelzelt, 18.30-19.15 Uhr: Diese Stimme erregt sofort Aufmerksamkeit. Die Australierin Grace Cummings entlockt ihrer Stimme eine enorme Breite. Wenn sie drahtig rau singt, dann meint man einen Mann zu hören. Von tiefer Schwere als auch leichtfüßig kann sie ihre Lieder steuern. Ihr 2022 erschienenes Album „Storm Queen“ bietet all diese stimmlichen Variationen. Die meist melancholische Musik erinnert an den typischen Singer-Songwriter-Stil, den man in Haldern häufig hört; kleine Folk-Anleihen sind Garnitur. Also… Musik für: die volle Konzentration auf diese Stimme. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „Heaven“, „Raglan“.
Donnerstag, Marktplatz, 12-12.45 Uhr: Diese Schweizerin passt zum Haldern Pop: Emilie Zoé überzeugt mit einer interessanten Stimme, die durch smarte Kompositionen begleitet wird, die stilistisch irgendwo zwischen Lo-Fi-Rock und Indie angesiedelt werden können. Auch ihr 2022 veröffentlichtes Album „Hello Future Me“ bringt diese herrliche Melancholie mit, überrascht mit gelungenen Wendungen in den Stimmungen. Haldern Pop könnte für die Künstlerin aus Lausanne das richtige Sprungbrett sein. Musik zum: angeben, dass man diese Sängerin schon früher live gesehen hat. Erlebnispotenzial: 4/5
Hörproben: „Parent’s House“, „Roses on Fire“.
Freitag, Spiegelzelt, 1.45-2.45 Uhr: Auch wenn die Band Black Midi heißt, die Londoner haben nichts mit der japanischen Musikrichtung zu tun. Vielmehr liefert das Quartett ein breites Rockspektrum. Häufig experimenteller, jazziger, mal krachig, punkiger, auch mal melodiös. Ihre bisherigen Alben von 2019 und 2021 beweisen, dass auch diese Nischenmusik ihren Platz in den Albumcharts findet. Der ganz eigene Sound hat seine Fans, andere werden eher entnervt abwinken. Erneurer der Rockmusik? So sehen es manche Musikkritiker, aber nein, am Ende wird es zurück in die Nische gehen. Musik für: die dollen fünf Minuten. Erlebnispotenzial: 4/5
Hörproben: „Love Story“, „John L“.
Samstag, Spiegelzelt, 15.30-16.15 Uhr: Das Repertoire der heute in Köln ansässigen Band Erdmöbel ist riesig. Kein Wunder, bereits 1993 gründete sich das Quartett um Sänger Markus Berges. Hin und wieder schafften es Tonträger in die Albumcharts; die einzige Single, die in den Charts landete, war allerdings ein Cover – „Weihnachten (Last Christmas)“. Es würde ihrem Gesamtwerk wirklich nicht gerecht werden, sie darauf zu reduzieren. Die Band verdient mehr Aufmerksamkeit. Ihr melodischer Indie-Pop, der durch findige Texte geprägt ist, ist für ein deutsches Publikum natürlich leicht zugänglich. Musik als: zeitlose Reise durch 29 Jahre Bandgeschichte. Erlebnispotenzial: 4/5
Hörproben: „Das Leben ist schön“, „Wir sind das Volk (Lass sie rein)“.
Donnerstag, Kirche, 15-15.45 Uhr: Die Cellistin Anne Müller ist schon häufig von Musikern ins Studio oder auf die Bühne eingeladen worden. Ob Marcus Wiebusch oder Phillip Boa – ihre instrumentale Klasse wird geschätzt. Viele Jahre eher im Hintergrund stehend, hat die Berlinerin 2020 mit „Heliopause“ ihr erstes Solo-Album veröffentlicht. Zuvor hatte sie nur 2011 das Album „7fingers“ mit Nils Frahm gemeinsam heraus gebracht. Im Fokus ihrer neoklassischen Instrumentalstücke liegt natürlich das Cello, das in kosmische Sphären abdriftet. Musik für: cellophile Augenschließer. Erlebnispotenzial: 2/5
Hörproben: „Solo? Repeat!“, „Drifting Circles“.
Freitag, Spiegelzelt, 22-22.45 Uhr: Experimentell, rockig, rotzig, verspielt – das sind Squid aus Brighton. Ihr erstes Album „Bright Green Field“ ist 2021 erschienen. Ihr Sound klingt wie die wahnsinnig gewordene Version von Talking Heads. Aber das ist Wahnsinn mit Konzept. Die Kompositionen sind durchdacht, spitzfindig, aber sprechen eben einen Geschmack auf der anderen Seite des Mainstream-Erdballs an. Und natürlich kriegt eine solche Band beim Haldern Pop seine Bühne. Musik für: Postpunk-Lovers. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „America!“, „Paddling“.
Samstag, Spiegelzelt, 22-22.45 Uhr: Sinead O’Brien, aus Irland stammend, in London lebend, rollt ihrer Dichtung den musikalischen Teppich aus. Ihr kristallklarer Sprechgesang, der durchaus Klang hat, kommt mit Art-Rock-, Noir-Rock- oder Post-Punk-Ummantelung daher. Es ist die Kraft der Worte, die wirkt. Trotzdem ist die Musik… tanzbar? Mindestens mitwippen. Und bitte nicht die Qualität des Gitarrenspiels vergessen, die ist unprätentiös-großartig. Musik für: rockaffine Lippenleser. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „There Are Good Times Coming“, „Girlkind“.
Freitag, Hauptbühne, 19.15-20.15 Uhr: Post-Punk ist nicht oft charttauglich. Mit „Drunk Tank Pink“ schafften es die Südlondoner Shame in die deutsche und britsche Top 10 der Albumcharts. Post-Punk scheint in Mode zu sein. Was auch die große Zahl der Bands dieser Stilrichtung beim Haldern Pop zeigt. Wer die sozialkritischen Botschaften dechiffrieren will, muss erstmal die Musik durchdringen. Das Songwriting ist durchaus abwechslungsreich, erwartbar experimentell. Das Gitarrenspiel fällt durch Vielseitigkeit auf. Der Gesang… ja, Punk halt. Musik für: Punks mit Niveau. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „Water in the Well“, „Snow Day“.
Freitag, Kirche, 14.30-15.15 Uhr: Die aus Äthiopien stammende und in Belgien aufgewachsene Liedermacherin Meskerem Mees trat auch 2021 beim Haldern Pop auf. Ihr Debütalbum „Julius“ (2021) ist nach einem Esel benannt, ihre Musik aber keine Eselei. Ihre liebliche Stimme sorgt für einen warmen Grundton. Gitarren-Zupfer und Cello-Streichler bestärken die Atmosphäre. Haben was Verträumtes, diese Balladen. Musik zum: gedankenlos Fallenlassen. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „Joe“, „Parking Lot“.
Freitag, Spiegelzelt, 18.30-19.15 Uhr: Das New Yorker Quintett Gustaf spielt sich von einem Pop Bar-Auftritt aufs Festival. Der Band um Sängerin Lydia Gammill wird eine satte Live-Energie nachgesagt. Da macht es wohl Sinn, dass sie nach ihrem Debütalbum „Design“ in 2021 in diesem Jahr ein Live-Album nachgeschoben haben. Ihr Post-Punk ist nichts für Harmoniesüchtige. Könnte auch der Soundtrack unter dem Titel „Ich ärgere meinen kleinen Bruder sein“. Gustaf schrammeln und jammern ihm die Ohren voll und lächeln dabei überheblich. Musik für: den schrägen Nervenkitzel. Erlebnispotenzial: 2/5
Hörproben: „Mine“, „Design“ (Live).
Freitag, Hauptbühne, 17.45-18.30 Uhr: Acht mal „Yeah“ gönnt sich die Band Friedberg für den Titel ihre Debüt-EP 2021. Ihr verspielter Synthie-Indie-Rock erschafft eine gewisse Opulenz, ist tanzbar und bietet sehr vielseitige Lieder. Neben den Gitarren fallen aufwendige Percussions auf. Sängerin der ansonsten englischen Frauen-Formation ist die Österreicherin Anna F., die vorher als Solo-Künstlerin drei Alben veröffentlichte und einen Song „Friedberg“ nannte. Musik zum: Abtanzen und Abfeiern. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörprobe: „Never Gonna Pay the Rent“, „Yeah“.
Donnerstag, Spiegelzelt, 2-3 Uhr: Post-Punk, Sprechgesang, London – ja, davon gibt es beim Haldern Pop 2022 einige Gruppen. So auch Dry Cleaning. Die Worte von Florence Shaw bleiben insgesamt sehr monoton, erzielen kaum Wirkung. Da kann man sich besser auf die Musik konzentrieren. 2021 ist das Debütalbum „New Long Leg“ erschienen. Genregerecht lebt die Musik von rauen Gitarrensounds, die kompositorisch wenig Überraschungen bietet. Bei all den Post-Punk-Bands, die beim Festival zu hören sein werden, werden Dry Cleaning kaum herausstechen können. Musik um: sie im Biergarten nebenher zu hören. Erlebnispotenzial: 1/5
Hörproben: „Scratchcard Lanyard“, „Every Day Carry“.
Freitag, Hauptbühne, 21-22 Uhr: Dieser Soul geht ins Mark. Das hat Curtis Harding schon 2018 beim Haldern Pop bewiesen. Der Retro-Sound bringt eine gern gehörte Farbe in den bunten Festivalstrauß. Die Stimme ist à la bonne heure. Die Musik lädt zum Tanz ein, mal geschmeidig-eng mit seinem Partner, mal mit Potenzial zum großen Rudeltanz vor der Hauptbühne. 2021 hat der US-Musiker sein drittes Album „If Words Were Flowers“ veröffentlicht, das in den deutschen Albumcharts immerhin auf Platz 31 landete. Musik für: jeden, der auch nur etwas Soul in sich hat. Erlebnispotenzial: 4/5
Hörproben: „I Won’t Let You Down“ (Live), „Can’t Hide It“.
Samstag, Hauptbühne, 21-22 Uhr: Kritiker werfen den Kanadiern Bad Bad Not Good vor, Jazz für jene zu spielen, die nie echten Jazz gehört haben. Dem kann man wohl entgegnen: Ja, natürlich! Das instrumentale Trio grenzt sich von der Jazz-Tradition ja eher bewusst ab und unterstreicht die Individualität. Und das mit Erfolg. Millionenfach geklickt werden ihre Lieder. Auf dem Album „Talk Memory“ von 2012, dass in Kanada und Deutschland in die Albumcharts gelangte (Hört, hört, liebe Jazz-Traditionalisten) wird die Bandbreite ihrer instrumentalen Fertigkeiten voll ausgekostet. Auch HipHop- und Funk-Einflüsse sind erkennbar. Musik zum: Abfeiern der Fingerfertigkeit. Erlebnispotenzial: 3/5
Hörproben: „Signal from the Noise“, „Beside April“.