Duisburg. Die vergangenen Monate waren für CassMae „echt verrückt“. Ihre Musik erreicht ein Millionenpublikum. Mancher Fan glaubt nicht, dass sie blind ist.
- CassMae aus Duisburg ist in Indien als Sängerin ein Star
- Duisburg ist für sie ein „Safe Space“, ein sicherer Ort
- Seit Geburt an blind ist CassMae darüber erschrocken, wie wenig Menschen über Blindheit wissen
Die Frau, die mit indischer Popmusik ein Millionenpublikum auf YouTube, Instagram und TikTok erreicht, wird hier am Masurensee ganz still. Dutzende Segelboote liegen aufgereiht am Steg im Wasser. CassMae nennt sich die junge Duisburgerin. Von Geburt an blind, saugt sie auf, was sie hört und spürt: das Knirschen der Kieselsteinchen unter ihren Füßen. Der Wind, der die Blätter rauschen lässt und ihr die langen Haare ins Gesicht weht. Sie lässt die weiße Kugel am Ende ihres Blindenstabes über den Boden gleiten. „Hier ist so viel freie Fläche“, sagt sie. „Es ist für mich einfach unbeschwert, hier spazieren zu gehen.“
Am Seebüdchen nahe der Sechs-Seen-Platte in Duisburg treffen wir die Musikerin Cassandra Mae Spittmann. Im Videoformat „Wegbier“ zeigen uns zehn Frauen die Orte im Ruhrgebiet, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Auf dem Weg dorthin erzählen sie ihre Geschichte.
„Es ist echt verrückt“, sagt CassMae über die vergangenen Monate. Fast 800.000 Menschen folgen der 22-Jährigen auf Instagram. Die Plattform TikTok hat einige ihrer Musikvideos bereits millionenfach abgespielt. Die Duisburgerin ist über Social Media zu einem Star in Indien geworden. Dabei hat sie das Land in diesem Jahr überhaupt zum ersten Mal besucht.
Indischer Premierminister schwärmt: „Deutsche Tochter Indiens“
Einer ihrer Fans ist der indische Premierminister Narendra Modi. Wann er ihren Gesang zum ersten Mal gehört hat, weiß CassMae nicht. Doch seit der Regierungschef im vergangenen Jahr in seinem Podcast minutenlang von der „deutschen Tochter Indiens“ schwärmte, ist ihre Fangemeinde explodiert.
2017 hört die Duisburgerin bei einem USA-Aufenthalt zum ersten Mal bewusst indische Musik. „Das hat mich schockiert – im positiven Sinne“, erinnert sie sich. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie nichts über Indien gewusst. „Ich habe nur scharfes Essen damit verbunden.“ CassMae taucht tief ein in die Kultur: lernt in wenigen Jahren viel über Traditionen, Musik und Sprachen. Sie ist fasziniert von der Spiritualität.
Junge Duisburgerin lernt Hindi
CassMae macht I-Pop: „Das ist englische Popmusik mit indischen Elementen, seien es Sprachen, Melodien oder Instrumente“, erklärt sie. Eine der wichtigsten Sprachen des Landes, Hindi, kann sie sprechen. Sie singt aber in mehr als zwölf indischen Sprachen, auch wenn sie diese nicht alle versteht. Ihre Stücke textet und komponiert sie selbst.
„Mit drei oder vier Jahren habe ich angefangen, mit meinen Füßen stark auf den Boden zu trommeln“, erinnert sich CassMae. Das habe sie gemacht, um sich zu orientieren. Sie fand auch die unterschiedliche Akustik in den Räumen spannend: „Für mich war das Musik, aber unsere Nachbarn fanden das nicht so toll“, sagt sie schmunzelnd. Bei einer Musiklehrerin lernt sie das Trommeln – „dann aber mit den Händen“. Später kommt Klavier dazu. Schon als Jugendliche tritt die Duisburgerin bei Fernsehshows wie „Klein gegen Groß“ oder „Dein Song“ auf. Seit drei Jahren studiert sie Songwriting in Köln.
CassMae: „Duisburg ist mein Safe Space“
So sehr sich CassMae mit Indien beschäftigt, so sehr bleibt sie doch in ihrer Heimat verhaftet: „Duisburg ist mein Safe Space“, ihr sicherer Ort. Vieles in der Stadt ist ihr vertraut. Hier ist sie aufgewachsen, hat das Steinbart-Gymnasium besucht. Hier sind ihre Lieblingsorte: die Sechs-Seen-Platte. Oder das Coffee House am Sternbuschweg. „Das habe ich vor kurzem für mich entdeckt“, sagt die 22-Jährige.
Oft sei dort viel los. An diesem Tag sitzt ein Teil der Mannschaft des MSV Duisburg an einem langen Holztisch zusammen. CassMae wählt einen Platz auf einer Eckbank an der großen Fensterfront und bestellt eine weiße Schokolade. Ihr Handy hat sie auf den Tisch vor sich gelegt. Sie koppelt es mit einem Gerät, mit dem sie in Brailleschrift schreiben und lesen kann. So interagiert sie mit ihren Fans in den sozialen Medien.
„Erschreckend, wie viele Menschen nichts über Blindheit wissen“
Manche Kommentatoren auf TikTok glauben ihr nicht, dass sie nicht sehen kann. „Es ist erschreckend, wie viele Menschen gar nichts über Blindheit wissen“, sagt sie. Das ziehe sich durch alle Generationen. Vor allem ärgert sie sich aber über Institutionen. Statt nach einer Lösung zu suchen, wie sie zum Beispiel studieren könne, hätten diese oft nur die Probleme im Blick.
„Ich habe erst jetzt verstanden, wie die Blindenampeln in Duisburg funktionieren“, berichtet sie. Die Stadt habe das nicht erklärt. Sie wolle niemanden beschuldigen. Es gebe einfach viel Unsicherheit im Umgang. Generell wünscht sie sich von den Menschen, denen sie begegnet: „Lasst die blinde Person erst einmal machen oder fragt höflich nach, ob sie etwas braucht, statt vorwegzunehmen, was sie wohl machen will.“
Gleichzeitig will CassMae nicht auf ihre Blindheit reduziert werden. „Ich mache Musik, weil das meine Identität ist“, stellt sie klar. In der Mercatorhalle in der Stadtmitte steht ein Flügel auf der großen Holzbühne. Davor ziehen sich die Stuhlreihen hoch hinauf bis zu einem Balkon. Normalerweise spielen hier die Philharmoniker. Im Mai hat CassMae zwei Auftritte in dem Saal absolviert. „Das war krass“, sagt sie. Als Kind habe sie im Publikum gesessen und nun dürfe sie selbst vor so vielen Menschen auftreten.
CassMae füllt den großen Raum aus mit ihrer kraftvollen Stimme. Ein Mikrofon braucht sie nicht. Ihre Finger gleiten über die schwarz-weißen Tasten des Flügels. „Ich bin dann so ganz bei mir“, beschreibt sie. „Auf der Bühne kann ich richtig laut sein.“
Wenn sie runterkomme, sei sie ein anderer Mensch. Sie könne zum Beispiel nicht so gut Komplimente annehmen und brauche auch mal Zeit für sich. Früher habe sie oft gedacht: Ich schaffe das nicht. So ein Denken schwäche einen aber. Es sei wichtig, sich selbst wertzuschätzen für das, was man gut kann. Ihr Rat: „Es ist nie gut, sich klein zu machen.“
Auf ein Wegbier – Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet
Zehn Frauen, zwei Getränke, ein Weg: Im neuen Video-Format Wegbier trifft sich Anne Krum, Chefredakteurin Digital, in zehn Folgen mit Frauen aus dem Ruhrgebiet. Sie starten am Kiosk. Mit einem Getränk in der Hand gehen sie zu prägenden Orten oder Lieblingsplätzen. Auf dem Weg erzählen die Frauen ihre Geschichten. Was treibt sie an, was um?
Kampfsportlerin Mandy Böhm trinkt in der ersten Folge (ab 13. September) kein Bier, aber Kaffee. Beim Streifzug durch Gelsenkirchen erzählt sie, warum sie zwar nicht so aussieht, sie sich selbst aber für ein „Monster“ hält.
In der zweiten Folge erzählt Sängerin Marie Wegener, warum sie trotz Morddrohung und Hassnachrichten an ihrem Traum arbeitet: auf großen Bühnen zu stehen mit ihrer eigenen Musik.
Die Kabarettistin Esther Münch hat ihre Heimat derartig lieben gelernt, dass sie fest davon überzeugt ist, ihre Heimat riechen zu können. In der dritten Folge führt sie durch ihre Heimat Bochum.
In der vierten Folge berichtet die frühere Spitzensportlerin und Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wie sie auf den Straßen von Duisburg das Kicken erlernte und warum ihre Mutter dagegen war, dass sie im Verein spielt. Sie erzählt auch, wie sie durch ihre Erkrankung ihren Job nicht mehr machen konnte.
In der fünften Folge erzählt Fernsehmoderatorin und Autoverkäuferin Panagiota Petridou, dass sie ihre Menschenkenntnis vor allem in der Kneipe ihrer Eltern gewonnen hat. Mutter und Vater sind als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Nordrhein-Westfalen gekommen.
In der sechsten Folge stellt Jasmin Wolz ihren Alltag als Feuerwehrfrau in Bochum vor. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen, die diesen Job ergreifen. Sie berichtet, dass sie als Jugendliche „das Männer-Ding“ Feuerwehr abstoßend fand und wie sie nun ihren Traumjob gefunden hat.
In der siebten Folge gesteht Oberärztin Dagny Holle-Lee: „Das Ruhrgebiet war am Anfang ein Schock“. Wie sie als eine der Top-Spezialistinnen für Kopfschmerzen ihre Medizin aus Essen heraus betreibt, erzählt sie im Video.
Die seit ihrer Geburt blinde Sängerin Cassandra Mae aus Duisburg erreicht Millionen mit ihrer Musik. Selbst der indische Premier ist ein Fan.
„Ich habe relativ vielen Menschen geholfen zu kündigen,“ sagt Britta Cornelißen. Sie arbeitet als Female Empowerment Coach und setzt sich für einen Mutterschutz für alle ein. Aufgewachsen ist sie in Gladbeck.
In der zehnten Folge: DJ Rubiga Murugesapillai.
Die Folgen erscheinen wochenweise neu auf unserer Wegbier-Formatseite.