Düsseldorf. Es gibt nur noch wenige Menschen, die den NS-Terror selbst erlebt haben. Ein Verein will die Botschaft der Holocaust-Überlebenden weitertragen.

Geschichte wiederholt sich doch: „Entnazifizierung wird heute wieder als Alibi in der Propaganda in einem Angriffskrieg verwendet“, sagt beispielsweise Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Sie sagt es an diesem Nachmittag im Foyer des Landtags in Düsseldorf. Seit vier Jahren ist sie Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW. Ein Job, bei dem es naturgemäß nicht allzu viel zu feiern gibt. An diesem Nachmittag allerdings schon: Sie und der Landtagspräsident eröffnen die Ausstellung des Vereins „Zweitzeugen“.

Zum zweiten Mal ist der Verein zu Gast im Landtag. „Vor zehn Jahren haben wir die Landtagsverwaltung noch geschockt, als wir gefragt haben, ob wir etwas an die Wände hängen dürfen“, erinnert sich Ruth-Anne Damm, Vorsitzende des Vereins. Die Essenerin und ihre knapp 150 Mitstreiter haben sich im Laufe der zehn Jahre professionalisiert: „Zweitzeugen“ ist mittlerweile ein bundesweit arbeitender Verein, der sich ein Wort des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel zu eigen gemacht hat: „All jene, die zuhören, werden selbst zu Zeugen werden.“

Darum geht es im Projekt „Zweitzeugen“: Junge Menschen in diesem Land animieren, sich mit dem Leben und den Schicksalen der Juden, Sinti, Roma, Behinderten, politisch anders Denkenden und Homosexuellen auseinanderzusetzen, die in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und den im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen überfallenen Ländern verfolgt und oft genug deportiert und ermordet wurden.

„Wir können nicht mehr so viele Dinge voraussetzen“

Die Überlebenden haben es sich in vielen Fällen zur Aufgabe gemacht, für den Rest ihres Lebens zu erinnern an das, was ihnen zustieß und was menschenverachtende Politik und Hass auf Andersgläubige und Andersdenkende möglich macht. Doch die Überlebenden des Holocaust sterben allmählich. Es gibt nur noch wenige direkte Zeugen der NS-Willkürherrschaft.

Wenn Jugendliche sich die Lebensgeschichte von Holocaust-Überlebenden aneignen, ist die Mission des Vereins „Zweitzeugen“ erfüllt. .
Wenn Jugendliche sich die Lebensgeschichte von Holocaust-Überlebenden aneignen, ist die Mission des Vereins „Zweitzeugen“ erfüllt. . © Zweitzeugen e.V. | Foto:

Deswegen das Projekt „Zweitzeugen“. „2010 habe ich mit Freunden im ZDF eine Sendung gesehen, in der berichtete wurde, dass mehr als die Hälfte der Holocaust-Überlebenden in Israel unterhalb der Armutsgrenze leben“, erinnert sich die Vorsitzende des Vereins Ruth-Anne Damm. Sie fragten sich: Wie kann das sein? Und sie begannen, zunächst unter dem Titel „Heimatforscher“ die Geschichten der Überlebenden aufzuzeichnen.

Daraus sind die „Zweitzeugen“ entstanden. Vor wenigen Tagen erhielt der Verein einen der sechs „Obermayer Awards“: Der von einem US-Unternehmer gestiftete Preis wird durch das Berliner Abgeordnetenhaus und die Leo-Baeck-Stiftung unterstützt und ehrt Initiativen, die aufzeigen, welche Bedeutung jüdisches Leben vor Beginn der NS-Zeit in Deutschland hatte.

Der Verein „Zweitzeugen“ ist auf Spenden und Fördermittel angewiesen, da er mit sechs hauptamtlichen und 147 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen keine institutionelle Förderung erhält. Die Arbeit besteht aus Schulbesuchen, Ausstellungsorganisationen, Produktion von Podcasts und Beiträgen. 16.000 Schüler sind bereits zu „Zweitzeugen“ geworden. Manche auch an ungewöhnlichen Orten wie dem Stadion von Borussia Dortmund.

„Unsere neu konzipierte Ausstellung richtet sich an 12- bis 16-Jährige“, erklärt Damm. „Wir haben festgestellt, dass wir nicht mehr so viele Dinge voraussetzen können.“ So werden jetzt auch, didaktisch aufbereitet, zumindest Grundzüge des NS-Staates, von der „Machtergreifung“ vor nunmehr 90 Jahren bis zum Plan der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, aufgezeigt.

„Dank Ihnen lebt meine Mutter weiter.“

Herzstück im doppelten Sinne sind jedoch die Lebensgeschichten. Vier davon sind auch in der Ausstellung im Landtag zu sehen, von zwei Holocaust-Überlebenden sind zur Feierstunde Angehörige in den Landtag gekommen. Leonard Brenner ist da, Sohn von Henny Brenner, 1924 in Dresden geboren als Tochter einer Jüdin und eines Protestanten. „Meine Mutter hat viel darüber geredet, ist an Schulen gegangen und hat auch ein Buch über die NS-Zeit geschrieben. Mein Vater hat das nie gekonnt, der wollte über diese Zeit nicht mehr reden“, erzählt Leonard Brenner – und dankt dem Verein, dass seine vor knapp drei Jahren verstorbene Mutter jetzt mit ihrer Lebensgeschichte und einem großen Porträt Teil der Ausstellung ist: „Dank Ihnen lebt meine Mutter weiter. Das haben Sie ermöglicht.“

Hedva Wolf ist aus Israel angereist, um die Ausstellung zu besichtigten und über ihre Mutter zu sprechen: Chava Wolf wurde 1932 in Transnistrien geboren, im Gebiet der heutigen Ukraine, sie überlebte den Holocaust, zog nach Rumänien, doch der Antisemitismus blieb. 1947 migrierte sie allein nach Israel. Ihren Lebenstraum, Ärztin zu werden, konnte sie nie verwirklichen: Während ihrer Kindheit war ihr der Schulbesuch verboten. Die Jahre der Verfolgung hatte sie aus ihrer Erinnerung gelöscht, doch die Seele forderte bis zuletzt ihre Kindheit: „Ich hatte so eine Sehnsucht nach Kinderjahre, dass ich bin hinein gegangen in ein Geschäft und hab gekauft eine Puppe. Mit 70 Jahren“, erzählt sie in einem Video.

Das Video zeigt auch, wie sie mit Tränen in den Augen Post aus Deutschland liest: Kinder haben ihr geschrieben, nachdem sie durch den Verein „Zweitzeugen“ von ihrer Lebensgeschichte erfahren haben: „Diese Briefe bedeuten, dass sie mich als Mensch wahrnehmen“, sagt Chava Wolf in der Dokumentation. Wer sein Gegenüber nicht mehr als Menschen wahrnimmt, legt den Keim für Verfolgung und Vernichtung. Und das ist der Teil der Geschichte, dessen Wiederholung die „Zweitzeugen“ verhindern wollen.

Die Ausstellung „Werde Zweitzeug*in“ ist bis zum 10. Februar im Landtag zu sehen. Eine Voranmeldung ist unter veranstaltungen@landtag.nrw.de erforderlich. Wer sich für die Arbeit des Vereins interessiert, erhält unter www.zweitzeugen.de weitere Infos.