Hünxe. Neuntklässler der Gesamtschule Hünxe konnten mit einer der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust und der Enkelin ihres Peinigers sprechen.

Ein ungleiches Paar präsentierte sich jüngst den Schülerinnen und Schülern zweier neunter Klassen der Gesamtschule Hünxe: Eva Weyl, 87-jährige Überlebende des Konzentrationslagers im niederländischen Westerbork, und Anke Winter, Enkelin des Kommandanten dieses Lagers. Doch die beiden vereint ein gemeinsames Ziel: aufklären über die wohl dunkelste Zeit der deutschen Geschichte, um „unsere Kräfte zu bündeln, damit wir ohne Hass, mit Toleranz weiterkommen können“. Dabei stellte Eva Weyl gleich zu Beginn klar: „Niemand von euch ist für die deutsche Vergangenheit verantwortlich, aber ihr seid dafür verantwortlich, was ihr daraus in Zukunft macht.“

Die beiden Frauen wurden per Videokonferenz aus Amsterdam und dem schweizerischen Montreux direkt in die Hünxer Klassenräume geschaltet. Zu anstrengend wäre die lange Fahrt gewesen. Dennoch stellte die Zeitzeugin Weyl in über zweieinhalb Stunden unter Beweis, dass sie trotz ihres Alters voller Energie, klar und packend über die Zeit des Nationalsozialismus, die Verfolgung und Vernichtung der Juden und ihre eigenen Erlebnisse berichten kann.

„Man wollte mich töten, aber ich bin noch da!“, leitete sie ihren Vortrag ein. Im Anschluss berichtete sie den gebannten Schülerinnen und Schülern über die Verfolgung und Vertreibung ihrer Eltern, ihre Zeit im Konzentrationslager Westerbork, ihre Erlebnisse in der Nachkriegszeit und wie sie ihre Aufgabe fand, durch das Teilen ihrer Erlebnisse als Zeitzeugin „Zweitzeugen“ zu schaffen, die auch nach ihrem Tod wenigstens aus zweiter Hand von ihren Erfahrungen berichten und warnen können.

Flucht vor dem NS-Terror

Ihr Vater, ein jüdischer Kaufmann aus Kleve, und ihre ebenfalls jüdische Mutter flohen 1934 aus dem von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschland ins niederländische Arnheim. Hier wurde Eva Weyl ein Jahr später geboren. Nach der Reichspogromnacht 1938 folgten ihre beiden Großväter der Flucht vor dem NS-Terror. Weyl berichtete von den Repressionen gegen Juden, die sie teils auch selbst in der Schule miterlebt habe, von Diskriminierung und von durch die Lehrer gedeckte Gewalt gegen jüdische Schülerinnen und Schüler. „Hört auf eure Gefühle, wenn euch jemand etwas befiehlt, was dagegenspricht!“, so ihr Rat.

Sie berichtete auch, wie ihre Familie 1942 im besetzten Arnheim die Aufforderung erhalten hätte, sich mit einem Koffer am Bahnhof einzufinden, um abtransportiert zu werden, wie sie die letzten sechs Kilometer in einer eisigen Januarnacht mit schwerem Gepäck ins Lager laufen mussten, da die Bahnstrecke bis zum Lager noch nicht fertiggestellt war, wie ihre Mutter sie versuchte zu beruhigen. Das Leben im Lager selbst sei für sie als Kind relativ normal gewesen. Westerbork, das „Vorportal zur Hölle“, sei aber auch ein besonderes Lager gewesen, in dem normale Kleidung getragen worden sei, es meist genügend zu Essen gegeben und keine Folter stattgefunden habe.

Den Grund hierfür erklärte Anke Winter: Ihr Großvater Albert Konrad Gemmeker habe als Kommandant des Konzentrationslagers eine „perfide Scheinwelt“ errichtet, mit zwei Schulen, einem Theater und dem damals größten Krankenhaus der Niederlande. Sie stellte aber klar, dass dies keineswegs aus Wohltätigkeit geschehen sei, sondern damit die Vernichtung von Menschenleben reibungslos ablaufen könne. Gefangene hätten sich trotz der Berichte aus den Konzentrationslagern im Osten gesagt: „Warum sollten sich die Nationalsozialisten hier mit uns so viel Mühe geben, nur um uns 2000 Kilometer im Osten einfach zu töten?“

Westerbork war jedoch nur ein Durchgangslager, in dem die Menschen gesammelt wurden, um dann in die Vernichtungslager im Osten gebracht zu werden. 107.000 Menschen durchliefen allein Westerbork. Darunter auch die bekannte Anne Frank. Den Holocaust überlebten von diesen nur 5000 Menschen. Gemmeker selbst habe dort wie ein König mit seiner Sekretärin in einer eigens hergerichteten Villa gelebt.

Wer nicht gehorchte, sei nicht direkt umgebracht worden. Stattdessen seien diese Menschen im nächsten Zug nach Osten in die Vernichtungslager deportiert worden. Ihr Großvater sei ein klassischer „Schreibtischmörder“ gewesen, der nach dem Krieg beteuert hätte, von nichts gewusst zu haben. Dies bescherte ihm ein mildes Urteil durch die Alliierten. Winter stellte jedoch klar, dass seine Unschuldsbeteuerung eine eiskalte Lüge gewesen sei.

Verschleierungsversuche

Ihr Großvater müsse durch Arbeit, Umgang mit weiteren anderen hochrangigen Nationalsozialisten und Hinweisen in den zurückkommenden Zügen bestens Bescheid gewusst haben, was in den Lagern im Osten mit den Menschen passierte. Er habe sie bewusst in den Tod geschickt. Sein Verhältnis mit seiner Sekretärin sorgte noch im Krieg für die Scheidung von seiner Frau. Durch seine unveränderte Einstellung und Verschleierungsversuche zerbrach wenige Jahre nach dem Krieg auch seine Beziehung zur restlichen Familie.

Weyl und ihre Familie überlebten das Konzentrationslager Westerbork. Grund hierfür war wohl eine Mischung aus wichtiger Arbeit des Vaters in der Lagerverwaltung und andererseits purem Glück: Am Tag ihrer geplanten Weiter-Deportation wurde das Lager irrtümlich von einem alliierten Jagdflieger angegriffen. Die Namensliste sei im Chaos verloren gegangen.

Nach dem Vortrag bekamen die Schülerinnen und Schüler, die sich dieser besonderen Chance bewusst waren, die Gelegenheit, spontane sowie im Unterricht vorbereitete Fragen zu stellen. Weyl und Winter gingen offen und umfassend auf sie ein. Ob Weyl Hass auf die Deutschen empfinden würde? „Nein“, antwortete die 87-Jährige. Sie sei vielmehr begeistert, wie intensiv an deutschen Schulen die Themen NS und Holocaust behandelt würden. Vor ein paar Jahren hätte sie sogar wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, da sie stolz sei, wie sich Deutschland seiner Vergangenheit stelle. Ob sie meine, etwas mit ihrem Engagement als Zeitzeugin erreicht zu haben? „Wisst ihr“, so Weyl „ich habe in den Jahren vor etwa 75.000 Jugendlichen gesprochen. Ich denke, dass ich zumindest einige erreicht habe, ihnen meine Botschaft mitgeben konnte.“

Bei den Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Hünxe hat sie dies definitiv erreicht. Sie werden dabei helfen, die Geschichte von Eva Weyl und Anke Winter in die Zukunft zu tragen!