Dinslaken. In Auschwitz wurden 1,3 Millionen Menschen ermordet. Eine Dinslakenerin hat überlebt: Bei der Befreiung wog Henriette Ilse Isaacson noch 30 Kilo.
Henriette Ilse Isaacson, deren Rufname Ilse war, wurde als drittes von neun Kindern des Ehepaares Julius und Selma Isaacson am 20. März 1908 in Dinslaken geboren. Ihren Vornamen Henriette erhielt sie zur Erinnerung an ihre Großmutter väterlicherseits, die ein Jahr zuvor in Dinslaken gestorben war. Ilses Vater Julius war ein bekannter selbstständiger Klempnermeister in der Dinslakener Altstadt, der sich auch vielfach ehrenamtlich engagierte. So war er Mitglied im Kriegerverein, der Sanitätskolonne, in der Feuerwehr und im Schützenverein.
Ilse und ihre zahlreichen Geschwister erlebten eine behütete und unbeschwerte Kindheit. 1916 verstarb jedoch Frieda, das älteste Geschwisterkind. Die achtjährige Ilse wurde vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben mit Verlust und Kummer konfrontiert.
Bücher veröffentlicht, Verein gegründet
Anne Prior erforscht seit vielen Jahren die Geschichte und das Schicksal der Dinslakener Juden. Sie hat mehrere Bücher dazu veröffentlicht – etwa zu den Kindertransporten nach Belgien („Geben Sie diese Kinder nicht auf!“). Dazu hat sie auch gemeinsam mit dem Gedenkort Jawne die Ausstellung „Gerettet auf Zeit“ konzipiert.
Sie gründete den Initiativkreis „Stolpersteine für Dinslaken“, aus dem im Jahr 2011 ein Verein wurde. 2012 verlegte der Künstler Gunter Demnig die ersten Stolpersteine in Dinslaken. Der Bundespräsident hat Anne Prior für ihre Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus 2018 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Ilse besuchte die jüdische Volksschule vor Ort. Im Jahr 1923, nach Beendigung der achtjährigen Schulzeit, zog sie für vier Jahre nach Uerdingen. In späteren Jahren gab sie „Schneiderin“ als Berufsbezeichnung an, daher kann vermutet werden, dass sie in Uerdingen ihren Beruf erlernte. Dort betrieb die Familie von Josef Albersheim ein Textilgeschäft. Ilses Tante Selma, die Schwester ihres Vaters, hatte Josef geheiratet.
1927 kehrte Ilse nach Dinslaken zurück und lebte wieder bei den Eltern in der Eppinghovener Straße 4. Es ist nicht bekannt, ob und wo Ilse anschließend in Dinslaken arbeitete, möglicherweise fand sie eine Anstellung in der Schneiderei von Albert und Betty Wolf oder aber im Textilgeschäft der Familie Salmon.
1931 traf die Familie Isaacson ein weiterer Schicksalsschlag: Der älteste Sohn Paul, Klempnermeister wie sein Vater, starb im Alter von fünfundzwanzig Jahren.
Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft begannen auch für die Dinslakener Juden Ausgrenzung und Entrechtung. Julius Isaacsons seit 1899 bestehender Klempnereibetrieb, dem auch ein Haushalts- und Küchenwarengeschäft angeschlossen war, gelangte 1937 in „arische“ Hände. Die Söhne Max und Otto flohen bereits 1936 bzw. 1938 nach Argentinien, wohin ihnen die Eltern im Februar 1940 mit ihrem Sohn Kurt folgten.
Ilse und ihre Brüder Werner, Hans und Günter lebten weiterhin in Dinslaken, sie wurden jedoch alle Ende Februar 1940 zwangsweise in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Weseler Straße eingewiesen. Zeitweilig wohnte Ilse auch in Bocholt, dem Wohnsitz ihres Verlobten Ernst Silberschmidt.
Am 23. März 1944 wurde die Dinslakenerin Ilse Silberschmidt nach Auschwitz gebracht
Im April 1940 gelang es Ilse, mit ihrem Verlobten und dessen Familie legal in die Niederlande einzureisen. Das Paar heiratete nur vier Tage nach seiner Ankunft in Utrecht. Am 8. Mai, zwei Wochen nach der Hochzeit, überfiel die deutsche Wehrmacht völkerrechtswidrig die Niederlande. Für Ilse und ihren Mann begann nun erneut ein Leben im Machtbereich der Nationalsozialisten.
Mit dem Beginn der Massendeportationen der Juden im Sommer 1942 tauchte das Ehepaar Silberschmidt unter. Mitte Dezember 1943 wurden sie von den Deutschen jedoch entdeckt, verhaftet und in das sogenannte „Durchgangslager“ Westerbork eingeliefert. Von dort deportierten die Deutschen das Paar am 23. März 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Diese Dinslakener wurden in Auschwitz ermordet
Josef Axel-Thaler (WH), Esther Baron, Vera Baron, Renate Baron, Anna Bernhard, Siegfried Bernhard, David Samuel Cohen, Fritz Cohen, Juliane Cohen, Margarete Cohen, Rebecca Cohen, Rosel Cohen, Erwin Eichengrün, Leonhard Elkan, Margot Frank, Gertrud Babette Fränkel (WH), Moses Franzmann, Lieselotte Frohmann (WH), Ruth Frohmann (WH), Jakob Fuldauer, Franziska Garbownik (WH), Regine Garbownik (WH), Auguste Getzler (WH), Paula Getzler (WH), Leopold Gradus, Wilhelmine Gradus, Emil Jacob, Emilie Jacob, Moritz Jacobs, Elkan Josias, Sofie Josias, Manfred Kann, Selma Kann, Martha Katz, Kurt Korona (WH), Levi Kwetser, Julia Kwetser, Hugo Lifmann, Sophie Lifmann, Sofie Löwenstein, Berta Moses, Hugo Moses, Johanna Moses, Max Moses, Mathilde Naumann, Leo Rech, Günther Rosenthal (WH), Betty Seligmann, Ilse Spier, Charlotte Stern (WH), Julie Sternfeld, Oskar Steuer (WH), Max Steuer (WH), Alfred Strauss, Siegfried Strauss, Ruth Weinberg, Berta Wolf, Emilie Wolf, Hugo Wolf.
Ihr wurde die Häftlingsnummer 56115 in den Unterarm gebrannt
Die langjährige Archivleiterin der Gedenkstätte Auschwitz, Danuta Czech, fasste die Ankunft des Zuges am 25. März 1944 in ihrer 1989 erschienenen „Chronologie der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“ wie folgt zusammen: „Mit einem Transport des RSHA aus Holland sind 599 Juden aus dem Lager Westerbork eingetroffen. In dem Transport befinden sich 387 Männer, 169 Frauen und 43 Kinder. Als Häftlinge in das Lager eingewiesen wurden nach der Selektion 304 Männer, die die Nummern 175323 bis 175626 erhalten, und 56 Frauen, die mit den Nummern 76076 bis 76131 gekennzeichnet werden. Die übrigen Deportierten werden in den Gaskammern getötet.“
Ilse Silberschmidt gehörte zu den Eingewiesenen und bekam die Häftlingsnummer 76115 in den linken Unterarm gebrannt. Ihren Ehemann Ernst selektierte die Lager-SS für die Zwangsarbeit bei der IG Farben im Lager Auschwitz-Monowitz. Er überlebte die Haftzeit nicht.
Die Arbeitskarte der Dinslakenerin blieb erhalten
Von Ilse Silberschmidt blieb eine Arbeitskarte aus dem Lager Auschwitz erhalten, auf der verzeichnet wurde, dass sie ausgebildete Schneiderin war. Nach Nachkriegsangaben ihres Bruders Max zufolge musste sie in Auschwitz als Näherin arbeiten.
Mit dem Heranrücken der Roten Armee im Januar 1945 begann die SS damit, den Lagerkomplex Auschwitz zu räumen. Zwischen dem 17. und 21. Januar wurden ca. 56.000 Häftlinge aus dem Stammlager Auschwitz, Auschwitz-Birkenau, Monowitz und etlichen Außenlagern in Richtung Westen getrieben. Zurück blieben die kranken, nicht marschfähigen Häftlinge, dies waren etwa 8.000 Menschen. Fast alle waren sie menschliche Wracks, nicht mehr arbeitsfähig, und daher für die SS unnütz. 300 von ihnen ermordete die SS kurz vor ihrem Aufbruch.
Am 27. Januar 1945 war Ilse Silberschmidt aus Dinslaken bis zum Skelett abgemagert
Nach der Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 kümmerten sich russische Ärztinnen und Ärzte um die im Lager Zurückgelassenen. Sorgfältig notierten sie deren Namen und Herkunft, den Tag der Einlieferung, die Nationalität sowie den körperlichen Zustand. Auch über Ilse Isaacson-Silberschmidt ist ein solches Dokument angefertigt worden. Sie war bis zum Skelett abgemagert und wog noch 30 Kilogramm.
Im Juli 1945 hatte sich ihr Zustand so weit stabilisiert, dass sie nach Utrecht zurückkehren konnte. Einem Dinslakener Bekannten schrieb sie im Juli 1946, dass sie nur durch ein Wunder Gottes überlebt habe. Ilse Isaacson-Silberschmidt heiratete später ihren Schwager Dr. Hermann Silberschmidt und baute sich mit ihm in Puerto Rico ein neues Leben auf. Sie starb 1988.