Bochum. Das Heimer-Institut in Bochum forscht seit zehn Jahren zum Thema Muskeldystrophien. Siegfried Heimer ist selbst betroffen und sagt: Beeilt Euch.

Siegfried Heimer ist 93 und sitzt im Rollstuhl. Doch er will kein Mitleid, er will Aufmerksamkeit – für das Thema Muskelschwund, diese seltene Erkrankung mit so vielen Gesichtern. Die vor mehr als 80 Jahren auch bei ihm diagnostiziert wurde. Und für die es noch immer keine Heilung gibt. Deshalb gründete der Bielefelder Unternehmer zusammen mit seiner Frau Irmgard vor 20 Jahren die „Heimer-Stiftung“ zur Erforschung der Krankheit. Ihr Hauptprojekt: die Förderung des Heimer-Instituts am Bochumer Bergmannsheil. Zu dessen 10. Geburtstag rollt Siegfried Heimer mit Frau und Sohn an der Seite persönlich an.

„Ich war damals gerade Rentner geworden, wollte etwas zu tun haben“, erklärt der Mann aus Bielefeld trocken. Aber tatsächlich gründete er die Stiftung wohl auch, weil er das Leid der Erkrankten kennt, gerade das betroffener Kinder. Und weil er weiß, dass diese Patienten keine Lobby haben; dass sich für seltene Krankheiten nur wenige interessieren; dass Forschung in diesem Bereich schwierig ist – und sich für Pharmakonzerne oft nicht „auszahlt“.

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Spezialsprechstunde am Muskelzentrum Ruhrgebiet

An der Neurologischen Klinik des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum befasst man sich mit dem Thema seit über 25 Jahren. Mehr als 1000 Betroffene werden hier jährlich allein in der Spezialsprechstunde behandelt. 2008 entstand hier zudem das Muskelzentrum Ruhrgebiet (heute mit den Standorten Bochum, Borken, Datteln, Dortmund und Duisburg). Es war eines der ersten überhaupt, das die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke zertifizierte: als Anlaufstellen mit besonderer Expertise. Inzwischen gibt es bundesweit 27, darunter auch ein Muskelzentrum Nordrhein, zu dem unter anderem die Essener Uniklinik gehört.

Dr. Anne-Katrin Güttsches. Das Heimer Institut in Bochum feiert 10. Geburtstag, es forscht zum Thema Erblicher Muskelschwund. Interview mit Institutsgründer Siegfried Heimer im Bergmannsheil in Bochumam Montag den 04.11.2024.  Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services

„Selbst innerhalb derselben Familie kann dieselbe Erkrankung ganz unterschiedliche Ausprägungen nehmen.“

Dr. Anne-Katrin Güttsches
Neurologin, stellv. Leiterin des Heimer-Instituts

In ganz Deutschland leben Schätzungen zufolge 150.000 Menschen mit schwerwiegenden Muskelerkrankungen. Doch es gebe mehr als 800 verschiedene – erworbene wie erbliche – Formen. Allein mehr als 100 Gen- und Proteindefekte, die zu Muskeldystrophien führten, seien bekannt, erläutert Prof. Matthias Vorgerd, kommissarischer Direktor der Neurologischen Klinik des Bergmannsheils und Leiter des Heimer-Instituts. Seine Stellvertreterin dort, Anne-Katrin Güttsches, ergänzt: „Und selbst innerhalb derselben Familie kann dieselbe Erkrankung ganz unterschiedliche Ausprägungen nehmen.“ Die wohl bekannteste Variante ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – die Krankheit, der der Physiker Stephen Hawking (†2018) zu bestürzender Aufmerksamkeit verhalf. Die weitaus häufigste Muskeldystrophie-Form ist Morbus Duchenne, in Bochum gibt es 40 Betroffene.

Im Heimer Institut konzentriert man sich auf den erblich bedingten Muskelschwund, die Muskeldystrophien – und da vor allem auf die sogenannte Calpainopathie. „Irgendwo muss man ja anfangen“, sagt Vorgerd.

„Ein ganz normaler Junge, nur eben langsamer“

Die Prognose bei Muskeldystrophien sei, so Vorgerd, „extrem unterschiedlich“, als „Faustregel“ gelte: „Je früher die Erkrankung beginnt, desto schlimmer verläuft sie.“ Als Alarmzeichen nennt er: häufiges Stolpern, Hinfallen, Mühe beim Aufstehen und Treppensteigen. Die Diagnose sei oft aber ein „Zufallsbefund“. Siegfried Heimer übrigens weiß bis heute nicht wirklich, an welcher Form er leidet. Er gehe von „Typ Becker-Kiener“ aus, sagt er. Aber als er erkrankte, gab es noch keine Gentests, die diese Vermutung hätten bestätigen können. Und als es sie gab, wollte die Krankenkasse sie für ihn nicht bezahlen. Heute ist es ihm egal.

Prof. Dr. Matthias Vorgerd.  Das Heimer Institut in Bochum feiert 10. Geburtstag, es forscht zum Thema Erblicher Muskelschwund. Interview mit Institutsgründer Siegfried Heimer im Bergmannsheil in Bochumam Montag den 04.11.2024.  Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services

„Forschung ist ein mühsames Geschäft. Aber es geht voran“

Prof. Matthias Vorgerd
Leiter des Heimer-Instituts und kommissarischer Direktor der Klinik für Neurologie am Bergmannsheil

Heimer sagt, er sei eigentlich immer „ein ganz normaler Junge, ein ganz normaler Mann“ gewesen, „nur eben langsamer als die anderen“. Erst auf Nachfrage räumt er ein, dass er schon lange nicht nur auf den Rollstuhl angewiesen sei, sondern dass er auch die Arme kaum mehr heben könne, beim Schlucken große Schwierigkeiten habe, siebenmal schon mit Knochenbrüchen im Krankenhaus gelandet sei. Den Stiftungsvorsitz hat er jüngst an seinen Sohn Andreas abgegeben.

Ziel der Forschung: eine Gentherapie, die hilft

Am Heimer-Institut erforscht man die Muskeldystrophien mit dem Ziel, eine „vektorbasierte Gentherapie“ zu finden, die diese heilen kann – zunächst am Beispiel der Calpainopathie, bei der ein Proteindefekt dazu führt, dass Muskel- in Fettgewebe umgewandelt wird. Bislang können nur Symptome behandelt werden. Erste entscheidende Schritte auf dem Weg können die Bochumer Forscher bereits abhaken, die „Grundlagenforschung“ haben sie erledigt; anderes gilt es noch herauszufinden, zunächst im „Maus-Modell“, letztendlich in Patienten-Studien.

„Es geht im Zickzack-Kurs voran“, fasst Vorgerd zusammen, „Forschung ist ein mühsames Geschäft. Aber es geht voran, und jeder Schritt voran bringt uns weiter.“ Er hoffe, sagt Siegfried Heimer, „dass wir irgendwann sagen können: Das haben wir!“ „Strengt Euch an, hängt er lächelnd an, „dass ich es noch erlebe.“

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