Essen. Viele Menschen geben an, auf Nachhaltigkeit zu achten – außer, wenn es um eine Sache geht, stellt unsere Autorin fest. Warum sie das stört.

Essen. Meine Freundin Emma geht schon seit Jahren nicht mehr zu Starbucks. Dort gibt es nur To-Go-Kaffeebecher aus Pappe mit Plastikdeckel, die sind umweltschädlich, sagt sie. Emma achtet auch sonst, wie sie sagt, auf Nachhaltigkeit in ihrem Leben.

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Sie wählt die Grünen, fährt mit dem Fahrrad, wenn es geht und mit der Bahn, wenn sie Freunde außerhalb der Stadt besucht. Fleisch isst sie nur in Ausnahmefällen – zum Beispiel, wenn sie in einem neuen Land unterwegs ist und aus Höflichkeit die lokalen Spezialitäten probieren möchte.

Warum werden Flugreisen beim Thema Nachhaltigkeit außer Acht gelassen?

Als ich vor ein paar Monaten mit ihr zum Shoppen in der Stadt verabredet war, probierte sie ein Oberteil bei H&M an. Es stand ihr gut, sie wollte es kaufen. Wir stellten uns an der Kasse an, doch kurz vor dem Kauf überkam sie das schlechte Gewissen: „Ich kann mich einfach nicht überwinden, das zu kaufen“, sagte sie. Sie hängte die Bluse zurück an den Kleiderständer. Wir gingen dann in einen Secondhand-Laden, denn dort einkaufen kann Emma gewissenstechnisch noch verkraften.

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Ich finde Emmas Einstellungen gut – wir sind ja unter anderem auch befreundet, weil wir viele Ansichten teilen. Doch stelle ich in den vergangenen Jahren immer öfter fest, dass ein Gedanke mich quält, wenn ich an meine so auf Nachhaltigkeit achtenden Freundinnen und Freunde denke – und damit ist nicht nur Emma gemeint, ich beobachte das bei so vielen anderen jungen Menschen meiner Generation auch: Wieso wird das wohl umweltschädlichste Thema von allen immer außer Acht gelassen? Denn: Während in Emmas Alltag noch nicht mal ein neu gekauftes Kleidungsstück Platz hat, ist Fliegen in ferne Länder ein fester Bestandteil ihrer Identität.

Das Flugzeug gehört zu Emmas Leben so sehr dazu wie ihre wöchentlichen Yoga-Stunden und ihre regelmäßigen Karaoke-Abende mit Freunden. Sie hat mit ihren 26 Jahren schon viel von der Welt gesehen: Wenn ich ihr Instagram-Profil herunterscrolle, sehe ich sie strahlend vor dem Machu Picchu in Peru, surfend auf den Wellen vor Australiens Küste, die Sonne genießend am Strand einer indonesischen Insel. Vergangenes Jahr hat Emma zwei Monate aus Kapstadt gearbeitet – „Workation“ nannte sie das. Wenn ich mir Emmas Leben so anschaue, dann sehe ich Spaß, Abwechslung, Abenteuerlust – und eine unübersehbare Doppelmoral.

Warum wird übers Fliegen auch immer noch so wenig geredet?

Es gibt Menschen, die leben komplett ohne Umweltbewusstsein. Die kaufen bei Billigmarken wie Shein und Temu ein, nehmen das Flugzeug, als gäbe es kein Morgen mehr, essen täglich Fleisch, weil es ihnen schmeckt. Und es gibt Menschen, die sind wie Emma: Sie wissen, dass wir kollektiv als Menschheit etwas an unserem Lebensstil ändern müssen, damit wir die Klimakrise in den Griff bekommen.

Menschen wie Emma kaufen nachhaltiger und bewusster ein, nehmen häufiger mal das Fahrrad oder die Bahn und bringen ihren wiederverwendbaren Becher zum Kaffeetrinken mit. Sollte diesen Menschen nicht bewusst sein, wie groß der Einfluss von Fliegen auf den CO2-Fußabdruck ist? Der ist nämlich so groß, dass kein Fleisch- oder Autoverzicht ihn auch nur ansatzweise wieder wett machen kann. Und ich frage mich, warum darüber immer noch so wenig geredet wird – besonders in der grünen, vermeintlich nachhaltigeren Bubble.

Sagen wir mal, meine Freundin Emma lebt in einer 60-Quadratmeter-Wohnung, sie bezieht Ökostrom, besitzt kein Auto und ernährt sich vegetarisch. Dann kommt sie laut dem CO2-Schnellrechner des Umweltbundesamtes auf einen jährlichen Kohlendioxid-Fußabdruck von 5,80 Tonnen. Das liegt deutlich unter dem deutschen Schnitt von 10,35 Tonnen. Emmas Bilanz sieht gut aus – wäre sie nicht so reiselustig.

„Wir reden beim Fliegen über mehrere Tonnen CO2

Denn wenn wir Emmas durchschnittliche Flug-Aktivität dazurechnen, ergibt sich ein anderes Bild. Nehmen wir mal an, sie fliegt einmal im Jahr nach Südafrika und wieder zurück (je ungefähr 12 Stunden) und einmal im Jahr nach Brasilien und zurück (auch je ungefähr 12 Stunden). Das sind zwei Flugreisen, 48 Flugstunden im Jahr. Dann liegt Emmas jährlicher CO2-Fußabdruck auf einmal nicht mehr bei 5,80, sondern bei 14 Tonnen. Er hat sich mehr als verdoppelt. Emma verhält sich damit insgesamt deutlich klimaschädlicher als der deutsche Durchschnittsbürger.

Emma würde sagen, dass sie ja in anderen Bereichen auf die Umwelt achtet und damit die Flugreisen, die ihr so wichtig sind, wieder wett macht. Diese Rechnung geht aber nicht auf: Wenn Emma nur noch Secondhand-Kleidung kauft, kann sie laut Statista im Jahr 0,23 Tonnen Kohlendioxid einsparen. Wenn sie komplett auf Fleisch verzichtet, kommen weitere 0,45 Tonnen CO2-Ersparnis dazu. Ähnlich sieht es beim Autofahren aus: Ein paar hundert Kilogramm CO2 kann sie jährlich einsparen, wenn sie die Bahn nimmt. Und ein Mehrweg-Kaffeebecher ist erst dann nachhaltiger als ein Pappbecher, wenn er mindestens fünfzigmal verwendet wird.

Aber beim Fliegen? Da reden wir nicht von ein paar Hundert Kilogramm, sondern von mehreren Tonnen Kohlendioxid. Zu behaupten, man sei an Nachhaltigkeit interessiert, wenn man regelmäßig Reisen in die Ferne macht, ist wie zu sagen, man achte auf gesunde Ernährung, weil man einmal in der Woche von einem Apfel abbeißt – und sonst jeden Tag nur Fast Food in sich hineinschaufelt.

Deutscher Durchschnittsbürger umweltfreundlicher als meine Freundin Emma

Das wird vor allem deutlich, wenn ich Emmas Lebensstil den eines deutschen Durchschnittsbürgers entgegenstelle. Nehmen wir mal an, unser Durchschnittsbürger heißt Markus, ist 45 Jahre alt, lebt in einer 70-Quadratmeter-Wohnung, der Klimawandel ist ihm egal. Er fährt täglich Auto, isst am liebsten Currywurst aus Billigfleisch (wir bleiben mal bei den Klischees) und fliegt einmal im Jahr in den Pauschalurlaub nach Mallorca.

Markus‘ CO2-Fußabdruck liegt laut dem Rechner des Umweltbundesamtes bei 7,80 Tonnen. Das sind über sechs Tonnen weniger als bei Emma. Diese Zahlen zeigen, was für eine Pseudo-Debatte wir hier in Deutschland führen. Es ergibt einfach keinen Sinn, im Alltag einen eigenen Kaffeebecher mitzubringen, wenn man eine Woche später in den Flieger nach Bali steigt, finde ich.

Leute fahren in den Urlaub, um bei Instagram anzugeben

Emma würde jetzt sagen, dass die Reisen außerhalb von Europa unverzichtbar sind, weil sie ihren Horizont erweitern und ihr einzigartige Erfahrungen bescheren. Ich glaube, dass Emma sich damit ein bisschen weit aus dem Fenster lehnt. In unserer globalisierten Welt unterscheiden sich die meisten Länder – zumindest die Großstädte – gar nicht mehr so sehr voneinander. Es gibt überall die gleichen Starbucks- und Zara-Filialen.

Soziale Medien sorgen dafür, dass die Menschen weltweit ähnlichen Modetrends nacheifern und sogar die gleichen Stars verehren – das sieht man zum Beispiel an Sängerinnen wie Taylor Swift, die in Singapur genauso die Stadien füllt wie in Gelsenkirchen. Und wenn man sieht, wie die Touristen-Attraktionen weltweit von Menschenmassen belagert werden, dann ist auch der Ausflug zu den Pyramiden von Gizeh keine lebensverändernde Erfahrung mehr, bei der man das Land und seine Bewohner richtig gut kennenlernt. Ich glaube, viele Menschen möchten dort vor allem hin, um anschließend auf Instagram mit ihren Urlaubsfotos anzugeben.

Wenn Emma diesen Text liest, wird sie vielleicht wütend werden

Die meisten Erwartungen, die wir Menschen an unsere Urlaube haben, könnten auch europäische Reiseziele erfüllen: Zum Beispiel Sonne, Strand, gutes Essen, historische Sehenswürdigkeiten. Ausnahmen gelten für Aufenthalte, die wirklich über eine touristische Reise hinaus gehen – also zum Beispiel Freiwilligendienste oder Auslandssemester. Dann ist man länger vor Ort, lernt Land und Leute kennen und die Flugstunden lohnen sich wieder mehr.

Wenn meine Freundin Emma diesen Text liest, wird sie vielleicht wütend werden. Das kann ich verstehen: Sie verbringt so viel Zeit damit, sich mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander zu setzen. Warum soll gerade sie jetzt kritisiert werden, obwohl andere Menschen noch weniger auf die Umwelt achten? Weil Emma, wenn es ihr mit dem Thema Nachhaltigkeit ernst wäre, versuchen würde, auf Fernreisen zu verzichten – oder zumindest noch eine Nacht darüber schlafen würde, bevor sie ihre nächste Flugreise bucht. Das bringt am Ende nämlich mehr als Starbucks wegen seiner Pappbecher zu boykottieren.