Bochum/Köln. Annett Louisan ist in den Mittleren Jahren angekommen, will aber immer noch spielen. Ihre „Babyblue“-Tour führt sie auch nach Bochum.

Annett Lousian hat sich auf ihrem zehnten Studioalbum „Babyblue“ mit dem Älterwerden befasst, wie es ist, in der Mitte des Lebens angekommen zu sein – ein wenig düsterer wie es scheint, sentimental, nachdenklicher, sogar politischer. Warum die Chansonnier trotzdem nicht mehr 20 sein möchte, was sie an den Mittleren Jahren schätzt und ob sie ihren ersten Hit „Das Spiel“ heute noch mal so singen würde, erzählte die 46-Jährige Maxi Strauch im Interview.

Ihr neues Album ist schon seit einem halben Jahr auf dem Markt. Wollen Sie noch drüber sprechen oder ist es schon ein alter Hut?

Die Gespräche verändern sich zum Glück mehr und mehr. Die ersten Interviews waren irgendwie krass, weil ich das Gefühl hatte, dass wirklich mal andere Fragen kommen. Das Album hat einen anderen Humor, es ist ein bisschen dunkler als sonst. Das hat mir sehr gefallen. Aber ich finde den Abstand zu einem Album auch spannend. Ich bin mit meinen Gedanken nicht mehr ganz da, ich bin schon bei der Tour, aber auch bei neuen Projekten. Ich kann jetzt „Babyblue“ richtig als Phase einordnen. Am Anfang steckt man noch tief drin und man ist auch noch persönlich involviert und jetzt hat es Flügel bekommen.

Auf „Babyblue“ sprechen Sie viele Themen an. Liebe, Politik, Religion, Verschwörungstheorien … Hatte sich so viel angestaut?

Ich finde, dass die Themen ganz gut zusammenpassen. Dieses Album ist in der Pandemie entstanden und wir hatten alle eine Menge Zeit zum Nachdenken. Es hat auch was mit meiner Lebensphase zu tun, dass ich nach dem Sinn des Lebens gesucht habe. Nach mir. Ich glaube, die wichtigste Frage im Leben eines jeden Menschen ist, wer man wirklich ist. Und sich die zu beantworten, ist natürlich schwierig. Aber da sind die mittleren Jahre, wie ich persönlich finde, unheimlich hilfreich, da passiert eine ganze Menge.

Zum Beispiel?

In der zweiten Lebenshälfte will man bestimmte Dinge nicht mehr über sich ergehen lassen oder man will Fehler nicht mehr zweimal machen. Man hat das Bedürfnis nach der Essenz. Das Muttersein hat auch seinen Beitrag geleistet. Und das Gefühl der Unsterblichkeit wird immer weniger und weniger. Deshalb sollte man mehr in der Gegenwart leben und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Es bringt nichts, alles mitzuschleppen. Das macht uns so dysfunktional, wenn wir ständig immer grübeln.

Und Sie haben den Sinn Ihres Lebens jetzt gefunden?

Sinnvolle Dinge tun, das Gefühl haben, dass etwas sinnvoll ist, das macht mich unglaublich glücklich. Und das kann so viel Unterschiedliches sein. Ich finde immer mehr Trost in der Schönheit. Das kann ein tolles Gericht sein, das man kocht. Das kann der azurblaue Himmel sein im September ... Das erscheint mir sinnvoll, das zu spüren, dahinzugucken.

Das klingt alles sehr positiv, dabei ist ihr Lied „Mittlere Jahre“ sehr sentimental und schwer. Möchten Sie doch noch mal 20 sein?

Auf keinen Fall, ich möchte nicht mehr dahin zurück, wo ich schon mal war. Aber es ist eben auch ein Abschied von Vergangenem, auch von Vorstellungen über sich selbst. Und auch die Jugend muss man verabschieden. Wenn ich das nicht tue, dann belüge ich mich selbst. Jetzt sind andere Dinge wichtig. Gesundheit zum Beispiel, die mentale und körperliche. Das ist die Voraussetzung, dass wir in Würde und glücklich altern können. Ich freue mich darauf, so eine merkwürdige, heitere Alte zu werde, die man gerne besucht, weil sie ein bisschen was zu erzählen hat.

Zum Schluss heißt es ja auch: „Ich will nicht wieder 20 sein, ich glaube, die Reise führt mich heim.“

Die Mittleren Jahre, so wie in dem Lied beschrieben, das ist ja kein Dauerzustand. Das Lied trifft nicht jeden. Aber wenn dieses Lied auf jemanden zutrifft, der das in einem bestimmten Moment hört, indem man sich dann abgeholt und verstanden fühlt, dann ist es etwas Wunderschönes.

Und wenn nicht?

Ich habe mich ein bisschen von dem Bedürfnis verabschiedet, dass ein Lied immer alles und möglichst viele Leute erreichen muss. Wenn man nämlich solche Lieder schreibt, dann wird man ganz schön flach. Es muss auch diese anderen Lieder geben, die viel spezieller sind, die vielleicht auch speziellere Momente erzählen und das macht das Album „Babyblue“ für mich aus. Es ist kein Gebrauchsalbum, das man zu jeder Tageszeit hört. Es holt einen in bestimmten Momenten ab.

Also ein Mutmach-Album?

Ja, zum Beispiel gibt es einen unglaublichen Positivismus. Man darf auch mal wütend sein. Man kann die Liebe auch mal zerfleischen und sagen, was für eine zerstörerische Kraft das ist. Es gibt Leute, die erholen sich nie von Liebeskummer oder einer Ablehnung, und die sind dann ewig lange beziehungsunfähig. Das sind für mich auch Wahrheiten auf dieser Welt. Und deshalb war es mir wichtig, nicht immer nur das heilende Ende zu finden, sondern einfach mal eine Verletzung stehen zu lassen, eine Dunkelheit und eine Wut.

Apropos Liebe: Die war früher häufig großes Thema in Ihren Liedern, sind Sie da auch realistischer geworden?

Ich glaube immer noch an die Liebe, vielleicht sogar mehr als je zuvor. Aber ich habe keine Tomaten mehr auf den Augen. Ich konnte mich früher in Leute verlieben, die ich gar nicht kannte. Ich wusste gar nicht, was gut für mich ist. Wir haben uns an den Weisheiten oder Regeln von anderen Menschen orientiert. Aber man darf auch besonders und eigen sein. Was die Liebe angeht, bin ich heute fast romantischer, weil ich nicht mehr so verklärt bin. Ich würde ein paar Sachen nicht mehr so machen, wie ich sie früher gemacht hätte.

Zum Beispiel?

Ich würde nicht mehr so schnell zusammenziehen. Ich brauche viel mehr Freiraum. Dann habe ich viel mehr Bock rauszugehen und Leute zu treffen. Ich habe mehr Bock auf Sex, wenn ich ein bisschen Abstand habe. Da muss man sich disziplinieren und sich trauen, gegen die Normen zu gehen.

Sie sind vor sechs Jahren auch Mutter geworden. Wie hat Sie das verändert?

Ich bin inspiriert von dem Umfeld meiner Tochter, von dieser Normalität. Das Leben, das ich geführt habe, bevor ich sie bekommen habe, habe ich gar nicht richtig wahrgenommen. Ich war nur unterwegs, konnte am Dienstagabend eine Salon-Party bei mir zu Hause schmeißen … Jetzt kann ich ganz andere Geschichten erzählen. Das erdet mich, das ist sehr gut.

Ihre erste erfolgreiche Single war „Das Spiel“. Das ist fast 20 Jahre her und immer noch häufig Thema. Können Sie es selbst noch hören bzw. singen?

Ich finde das Lied unglaublich zeitlos. Ich freue mich schon drauf, es auch mit 80 noch live zu singen. Das stelle ich mir köstlich vor. Heute klingt es sicher ein bisschen anders, denn jede Stimme wird im Alter tiefer. Ich mag meine Stimme jetzt lieber, weil sie rauchiger ist und viel mehr Schmutz drin ist. Ansonsten bin ich sehr zufrieden damit. Obwohl ich mich glücklich schätzen kann, dass mein Publikum nicht dasitzt und schreit „Das Spiel“. Sie sind wirklich offen, sie haben Bock auf neue Lieder, auf neue Geschichten.

Haben Sie ein Lieblingslied?

Es gibt Lieder wie „Prosecco“ und „Drück die 1“, die ich auch gerne für die Leute spiele, weil sie bestimmte Erinnerungen an die Zeit haben. Bei mir ist es oft kein Lied, sondern ein Album. Ich war immer Album-Künstlerin. Vielleicht habe ich es aber auch einfach noch nicht geschafft, in einem Lied dieses ganze Universum klarzumachen, nämlich dass du weinen und lachen kannst. Das ist für mich die Perfektion, auch in der Musik, in einem Song – wenn man das denn schafft.

Wer in diesem Jahr sonst noch im Bochumer RuhrCongress auftritt

>>> Info: Annett Louisan: Babyblue Live 2023/24, 10.11. Bochum (RuhrCongress), 16.11. Köln (Palladium). Tickets ab 45 €.

Noch mehr Interview:

Fritz Eckenga: „Die Mitmenschen drehen hochtourig am Rad

Neue Tour-Termine: Maria Clara Groppler als „Mehrjungfrau“ unterwegs