Recklinghausen. Viel Theater, wenig echte Tragödie. Das Thalia-Theater als Gast in Recklinghausen. Langer Abend, weit entfernt vom Abgrund Shakespeares
Als nach pausenlosen 160 Minuten das Bühnenlicht erlischt, haben wir bei den Ruhrfestspielen eine Welt an Theater gesehen, nur die Tragödie war kaum auszumachen. Dabei ist Shakespeares „König Lear“ seine größte: ein Endspiel, nichts weniger. Hier aber, in Jan Bosses Regie, wird bis zum Ende bloß: gespielt.
„König Lear“ bei den Ruhrfestspielen 2024 mit Wolfram Koch
Wir erinnern uns: Ein König verschenkt sein Reich an die Kinder. Ein dummer Mann: so früh sich auszuziehen. So gierig, so kaltschnäuzig die beiden Töchter, die die dafür verlangte Liebeserklärung heucheln. Cordelia, Dritte im Bunde, ist zu gutherzig, solchen Honig um den Bart des Greises zu schmieren, sie wird verbannt. Lear wird verrückt. Und nebenan im Adel gehen die Geschichten grausamer Kinder weiter. Graf Gloucester wird vom verdorbenen Sohn abgekanzelt, Lears Töchter nehmen ihm das Augenlicht. Zwei alte Männer, die alles verloren haben, sollen einander Stütze sein am Ende in der Einsamkeit der Heide? „O schlimme Zeit, dass Narren Blinde führen.“ Die Schurken? Tragen allesamt eine Selbstvernichtungsautomatik in ihren schwarzen Seelen.
Shakespeares Lear ist nicht beizukommen mit Tiefenpsychologie. Es ist ein Stück, das man nur nehmen kann wie seine monströsen Wesen sind. Sie personifizieren Variationen über die Entwertung aller zivilisatorischen Errungenschaft. Auf grausame Weise moralfrei erzählt ist das, diktiert von Schicksalsgöttern, die erst Ruhe geben, wenn der Tod kommt.
Bosses „Lear“: Keine Langeweile – aber zu leichtfüßig, um Substanz zu haben
Was macht Jan Bosse damit? Er versucht dem Stück fast leichtfüßig beizukommen. Wie in Johan Simons‘ „Hamlet“ lümmeln sich die Darsteller bis zum Auftritt in der ersten Parkettreihe. Alle ein bisschen „als ob“, alle Figuren auf Abruf. Der Palast (Bühne: Stéphane Laimé): ein einziger Glitzervorhang, über dem die halbe Disko-Kugel schwebt, die Lears geteilte Welt ist. Und dann der König: gut in Form, der alte Herr, ein Gang wie ein Panther, die bodenlang funkelnde Damenrobe schenkt ihm Majestät ohne Gleichen. Übers Mikro ruft er das Fest der Schenkung aus, übers Mikro lügen die Töchter zurück. Eine Band wummert atmosphärisch vor sich hin. Ein Zugriff von der Stange des Zeitgenössischen.
Es ist nicht so, dass Langeweile die Folge wäre. Bosse zieht seine süffisante Erzähltechnik durch, verteilt Doppelrollen, macht aus Lears Narren einen charmant neurotischen Sommernachtstraum-Puck (Christiane von Poelnitz), zieht die Intrigenstrippen mit (etwas oberflächlichem) Witz und kann mit den Leuten vom Hamburger Thalia auf ein nie überragendes, aber insgesamt solides Ensemble bauen. Den wahren Abgrund des Werks würde diese Inszenierung indes nicht einmal bemerken, wenn sie hineinfiele. So viel Hässlichkeit, so viel Anti-Humanes, so viel Tod und Verderben regiert – aber fast alles nimmt in dieser Regie so tralala seinen Lauf. Hoher Schauwert, doch lässt er uns kalt.
Man kommt nicht umhin, eine Ursache auch in der Titelrolle zu sehen. Niemand wird an Wolfram Kochs Verdiensten zweifeln. Doch hier sehen wir ihn als Lear nur im oft gesehenen Kaleidoskop seiner bekannten Tricks und Manierismen. Das brustgesättigte Texttrompeten, das tänzelnde Irrlichtern, die lautmalerische Clownsnummer: herrlich, unverwechselbar. Aber das alles ist: King Koch. Der Königsmantel eines tragischen Helden ist in dieser seiner Größe nicht lieferbar.
Es schloss mit dem üblichen lauten Festspielapplaus, wenn auch etwas kürzer als bei den mitreißendsten Abenden auf Recklinghausens Hügel.
Weitere Aufführungen in Recklinghausen: 6. und 8. Juni, jeweils 19 Uhr.