Mülheim. Die erste Ruhrgebiets-Bühne startet in die Saison, erneut mit einem Festival. Erste Premiere im Raffelbergpark: ein galaktischer „Ödipus“.
Die Bühne ist komplett blutrot: Ein stilisierter hoher Felsen im Hintergrund, weiter vorn geometrisch geschnittene Brocken, auf denen schädelförmige Masken herumliegen. Einer dieser Brocken wird später zum Thron für Ödipus werden und ein Foltersessel der Wahrheit zugleich. Die Bühne steht allerdings unter freiem Himmel, im wie verwunschen daliegenden Raffelbergpark. Das auf acht Mimen reduzierte Personal, dessen Köpfe unter fleckig-transparenten Hauben stecken, nähert sich der Bühne von hinten übers Gras: gemessenen Schrittes und antikisch-futuristisch in Weiß gekleidet wie eine Truppe Aliens.
Vom Band war zuvor eine Soundcollage zu hören, in der Karl-Heinz Köpcke in der „Tagesschau“ den Start der Raumsonde „Voyager“ meldete, ausgestattet mit einer goldenen Schallplatte voller Informationen über die Erde und ihre Bewohner, gedacht für den Fall, dass die „Voyager“ auf außerirdisches Leben trifft. Am Tag der „Ödipus“-Premiere im Raffelbergpark war die Sonde rund 24,59 Milliarden Kilometer weit weg und als erstes Objekt von Menschenhand im interstellaren Raum unterwegs, seit 17.154 Tagen.
Der „Ödipus“ im Theater an der Ruhr ist kaum mehr ein Tyrann
Ein Ödipus aus dem Weltall, das gab es in der immerhin schon zweieinhalb Jahrtausende währenden Aufführungsgeschichte wohl noch nicht. Der Regie-Ansatz von Alexander Klessinger und Max Süthoff trägt jenseits seiner bewusstseinserweiternden Originalität nicht allzu weit: Er fokussiert das Drama eng auf das menschliche Leid, auf die tragischen Entscheidungen des Wahrheitssuchers Ödipus, des Individuums in seiner letztlich kosmischen Einsamkeit. Nicht von ungefähr lässt der Titel dieser Inszenierung die Bezeichnung „Tyrann“ aus dem Originaltitel des Sophokles beiseite. So entdeckt Ödipus mit jedem gelüfteten Geheimnis immer mehr von dem Verhängnis, in das er sich schuldlos schuldig verstrickt hat, ohne es zu wollen.
Es ist wohl dieses im Ursprungs-Sinne tragische Gefühl, das dem antiken Stoff ungeahnte Aktualität verleiht: mit jedem Schritt, den man unternimmt, um einer absehbaren Entwicklung zu entkommen, eben diese sogar noch voranzutreiben. Der Konzentration des hier kaum 90 Minuten währenden Dramas darauf dient auch die Besetzung der Titelrolle mit Paulina Alpen – das schließt geschickt jede psychoanalytische Bedeutungshuberei von vornherein aus. Ödipus, das ist der wahrheitssuchende, bewusst und doch unbewusst handelnde Mensch an und für sich. Nur kurz klingt in der Frage „Hybris ist die Wurzel der Tyrannei?“ die politische Dimension des Stücks an, dafür aber sehr gegenwartsträchtig.
Theater an der Ruhr mit einem „Ödipus“ unter freiem Himmel und Paulina Alpen in der Titelrolle
Dass die Aliens erst fähig werden, wie Menschen zu sprechen, wenn sie eine der herumliegenden Masken (Kostüme: Sophie Leypold) aufsetzen, zieht dem ganzen Stück einen doppelten Boden ein. Darin steckt das Wissen, dass wir alle Sternenstaub sind. Und auch das Bewusstsein, wie in der Antike unter freiem Himmel im Theater zu sein, in dem sich Schauspieler und Schauspielerinnen den Figuren nähern, eingebettet in einen kultischen Zusammenhang. In den gehören in diesem Fall nicht nur die Liegestühle, Biertische und Imbisswagen im Raffelbergpark, sondern das ganze „Geheimnis 1“-Festival, mit dem das Theater an der Ruhr sein neues Spielplan-Konzept fortschreibt. Vor allem in dem eigens entworfenen Kunstparcours „Curiosity didn‘t kill the cat“ (Neugier brachte die Katze nicht um) mit etlichen Kunstwerken, Performances und Installationen sowie in Gesprächen übers Geheimnis oder Zauber-Workshops und „Late Night Specials“ mit Lesungen und Musik bis weit nach Mitternacht.
Dieser „Ödipus“ in der äußerst geschmeidigen, sehr heutigen Übertragung von Roland Schimmelpfennig profitiert, was die Verständlichkeit unter freiem Himmel angeht, vom Einsatz der Mikroports – und leidet zugleich darunter, passend zu den vielen Dilemmata des Stücks. Hier rächt sich, dass seit geraumer Zeit die schauspielerische Darstellung von Leidenschaft auf unseren Bühnen oft mit Geschrei, Gebrüll und Kreischen verwechselt wird. Verfällt jemand auf der Bühne von Christopher Dippert in diese Tonlage, sind die Lautsprecher-Boxen überlastet. Grandios hingegen und eminent wichtig für das Gelingen des Abends ist die umsichtige, präzise Lichtregie von Jochen Jahncke.
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Als Paulina Alpen am Premierenabend zum erschütternden Schlussmonolog des rettungslos einsamen Weltallbewohners Ödipus wechselte, setzte leichter Nieselregen ein, der zum Glück pünktlich zum Einsetzen des warmen, kräftigen Schlussbeifalls wieder aufhörte. Gegen die Unbilden des wechselnden Sommerwetters sollte das Publikum, das vor Beginn mit Sitzkissen und Kuscheldecken ausgestattet wird, jedenfalls künftig gewappnet sein.
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