Essen. Die Geschichte stand im Fotobuch von Danny Lyon, Jeff Nichols hat einen sehenswerten Film daraus gemacht, „The Bikeriders“: Die Kritik.
In den 50er- und frühen 60er-Jahren mussten alle Amerikaner, die Motorradrennen fahren wollten, Mitglied in der „American Motorcycle Association“ sein, so eine Art US-ADAC für Zweiradverrückte. Die AMA hatte auf ihren Mitgliedsausweisen nicht nur ein Zitat des allmächtigen FBI-Chefs J. Edgar Hoover, man möge vorsichtig sein auf der Autobahn, sie verlangte von ihren Mitgliedern auch, gute Bürger zu sein, die Verkehrsregeln strikt zu befolgen und legale Schalldämpfer zu benutzen.
Aber es gab natürlich auch Motorradbesitzer, die nicht brav sein wollten. Oder konnten. Sie schlossen sich in den „Outlaw Clubs“ zusammen, trafen sich an Wochenenden irgendwo draußen zu Rennen mit großem Picknick. Trafen andere „Outlaw Clubs“. Man beschnupperte einander interessiert, und Rivalitäten wurden nicht nur auf Rädern ausgetragen, sondern auch in Kloppereien, für die man in Old Europe noch auf Schützenfeste musste. Das Styling dieser Jungs (Mädchen nahmen noch traditionell auf dem Sozius Platz) orientierte sich an James Dean in „Sie wissen nicht, was sie tun“ oder Marlon Brando in „The Wild One“, auch wenn im Nachhinein schwer auszumachen ist, wer da wem als Vorbild diente.
Aus den „Chicago Outlaws“ wurden im Film die „Chicago Vandals“
Einer der ältesten dieser Clubs waren die „Chicago Outlaws“, zu denen von 1963 bis 1966 auch der junge Danny Lyon gehört. Davon wüsste man heute nichts mehr, wenn Lyon nicht zu einem renommierten Fotografen aufgestiegen wäre – dessen Bildband „The Bikeriders“ ikonischen Status erlangte. Das Original von 1968 erreicht heute, je nach Erhaltungszustand, locker dreistellige Summen, und selbst Nachdrucke sind nicht einfach zu bekommen.
Lyon hatte die Outlaws von hinten im Staub fotografiert, im coolen T-Shirt auf der Sitzbank, beim nervösen Renn-Start und beim Zugucken, beim Frickeln am Vergaser, umkränzt von den Lichtern der Nacht oder beim Bierchen am Billardtisch. Und er hat die Outlaws interviewt, wie auch ihre Bräute. Das ist der Text zum Band.
Austin Butler ist viel zu schön um wahr zu sein in „The Bikeriders“
Die griffigsten, romantischsten, verräterischsten Geschichten daraus hat der für seinen kantenscharfen Zugriff bekannte US-Regisseur Jeff Nichols („Shotgun Stories“, „Take Shelter“) zu einem Drehbuch geschmiedet, das den Stoff des zur Glorifizierung neigenden Fotobuchs zuspitzt. Aus dessen Kurzbiografien und naiven Schilderungen hat er eine Dreiecks-Geschichte herausdestilliert, die echte Drama-Züge entwickelt.
Und das, obwohl sie aus dem Rückblick erzählt ist, aus dem Blickwinkel der eigentlichen Film-Heldin Kathy, die auf das Tonband des Fotografen Danny Lyon spricht. Eigentlich muss man die Original-Stimme der Britin Jodie Comer in dieser Rolle hören: Aus ihrer Tonlage spricht pure Weiblichkeit – aus dem, was sie sagt, lauter Kraft, Souveränität, Intelligenz. Sie ist es, die ihren Freund zum Auszug treibt und Benny heiratet, fünf Wochen nachdem sie ihn das erste Mal im Club gesehen hat. Benny, gespielt von Austin Butler, ist die Nr. 2 im Club der „Chicago Vandals“. Fast so wortkarg wie sein bester Freund, sein Vorbild Johnny, der Lkw-Fahrer ist, Familie und Kinder hat, und doch den Außenseiter-Club gründet. Er hatte Brando in „The Wild One“ gesehen.
Der Film schildert mit spürbarer Sympathie für die frühen Rocker (und mit einem wunderbaren Soundtrack aus den frühen 60er-Jahren: The Staples Singers, The Animals), wie sie sich mit dem rasanten Wachstum der Bewegung immer mehr radikalisieren, brutalisieren, zum Teil mit tödlichem Ausgang. Sichtbar wird auch, wie dumpf die Welt der Outlaws sein konnte, Tom Hardy spielt den Anführer Johnny so umwerfend, man muss ihm einfach abnehmen, dass er völlig zurecht die Zähne nicht auseinanderbekommt.
Austin Butler als Benny ist der einzige Schönheitsfehler des Films. Er ist viel zu schön für die Zeit, in der „The Bikeriders“ spielt: Das Gebiss zeugt von etlichen Bleaching- und Korrektur-Terminen beim Zahnarzt, der Bizeps riecht geradezu nach Muckibuden-Luftverbesserer. Aber man kann ihn natürlich gut am Auge haben. Wie auch die gekonnten Kamerafahrten von Adam Stone. Selten dürfte eine Desillusionierung so kinotauglich gewesen sein. Am Ende steht einer, der zu den wildesten Rockern von allen gehört hatte, mit seiner Harley vor einem Kino und lässt sie immer mal wieder so richtig aufbollern. Er macht Werbung. Für fünf Dollar am Tag. „Easy Rider“ läuft an...