Oberhausen. Ob es den weiblichen Blick in der Fotografie gibt, kann man diskutieren. Aber nicht, dass diese Foto-Ausstellung 217 starke Bilder hat.
Vielleicht kann man sich fragen, ob es in der Fotografie wirklich so ist wie im Fußball oder an Mädchengymnasien. Erst vor wenigen Jahren dokumentierte eine Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast, dass Frauen von Lee Miller bis Anja Niedringhaus im Krieg keinen Deut weniger brillant fotografierten als ihre Kollegen. Dass mit Marga Kingler eine Frau ein halbes Jahrhundert lang die täglichen Geschehnisse in und um Essen für die Zeitung dokumentierte, ist derzeit im Essener Ruhrmuseum zu erleben; und auf die kommende Ausstellung der menschennahen Ruhrgebietsfotografin Brigitte Kraemer kann man sich jetzt schon freuen. Rund 60 Prozent des Nachwuchses im Foto-Studiengang der Folkwang-Universität sind weiblich.
Und doch: Genau genommen sind das alles eher die Ausnahmen auf einem Feld, auf dem die meisten bekannten Protagonisten weiterhin Andreas, Thomas oder Axel heißen, Joachim oder Ralf. Deshalb zeigt die Oberhausener Ludwiggalerie nun in einer „Pionier-Ausstellung“, wie Museums-Chefin Christine Vogt sie nennt, 217 Fotografien aus Großbritannien, bei denen weibliche Finger auf den Auslöser gedrückt haben. Ob es auch einen weiblichen Blick gibt, das lässt sich in dieser Ausstellung mit ansehnlichen Argumenten füglich diskutieren.
„UK Women“: das sind Schnappschüsse und plakative Provokationen
Aber viel wichtiger ist ja, dass es großartige Fotografie in Serie zu sehen gibt: Von Familien an so gar nicht idyllischen Stränden Nordostenglands, wie Markéta Luskacová Ende der 80er-Jahre fotografierte. In grob gekörntem Schwarz-Weiß, das den Menschen dieser Bilder so gerecht wird, wie Farbe es kaum könnte. Da sind manchmal ein Dutzend Menschen zu sehen, die alle zur Familie gehören – 1002 Geschichten dahinter. Dann wieder ein Schnappschuss wie der Mann in Anzugjacke und Krawatte, der sich den Sand von den Füßen feudelt, die ausgehfeinen Großeltern mit dem verheulten Jungen in Badehose oder der Männchen machende Hund, gefüttert von einem Mann, der das Futtern besser ein wenig reduzieren sollte.
Aus der jüngsten Zeit stammt dagegen die Serie „Hackney Marshes“ von Freya Najade, die Menschen und Natur in den gleichnamigen Wäldern vor London in der Corona-Zeit ablichtete, als die Wälder Freiheit, Erlösung und manchmal auch eine neue Art von Beisammensein bedeuteten. Der Sanddorn leuchte orange, das Gestrüpp glühte grün, die Stockrosen sprossen. Und Menschen gingen baden im Fluss, als wäre es ein mythologisches Leinwand-Idyll aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Najade zeigt Menschen in ungewohntem Einklang mit der Natur, porträtiert im strengen Profil wie in der Renaissance. Dass da jemand „Utopia“ auf eine Bank gesprüht hat, gibt der Serie ihren eigentlichen Titel.
Aber da ist noch so viel mehr zu sehen, das den alten Gedanken bestätigt, dass nichts so interessant ist wie der Mensch: Jungs und junge Frauen in Kleidern für die Schulabschlussfeier, die wegen Corona gar nicht stattfindet; alleinerziehende Frauen und Männer auf den Bermudas, die sonst immer nur als Urlaubsparadies vorkommen. Freche Burschen, die sich lässig vor einer heruntergekommenen Fassade auf vier Säulen stellen, als wären sie Denkmäler; oder: Links zielt ein Junge mit einem Luftgewehr neben die Fotografin, rechts schmiegt ein Mädchen kleineres Mädchen den Kopf sorgenvoll in saudreckige Spielhände (beides von der genialen Trish Murta).
Tessa Bunney macht Jagd auf Jäger
Anna Fox hat Ende der 80er-Jahre Menschen am Arbeitsplatz überraschend schrill fotografiert, Elaine Constantine hat es auf ungemein ausdrucksstarke Gesichter abgesehen und Tessa Bunney macht fotografisch Jagd auf Jäger. Von Sarah Maple wiederum gibt es herrlich ironische Feminismus-Plakate, und bei Michelle Sank lesen wir in den Fragebögen, die sie den fotografierten 16-Jährigen ihrer Bilder gab, Sätze wie „Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde keinen Erfolg haben im Leben“.
Und wenn man unterm Dach des Schlosses bei Eliza Hatch angekommen ist, weiß man, dass es bei ihrem Thema eigentlich nur einen weiblichen Blick geben kann: Sie fotografiert Frauen, die von sexuellen Belästigungen erzählen – und ihre Bilder sind eine vorwurfs- wie würdevolle Antwort darauf.