Essen. Zwei neue Sachbücher machen klar, dass politische Freiheit nicht nur Arbeit bedeutet, sondern auch Disziplin und Anstand braucht.

Kann es sein, dass wir nur noch Konsumenten der Politik sind? Vielleicht staunte die Öffentlichkeit deshalb so sehr über die inzwischen auch schon wieder abgeflauten Demonstrationen gegen den Rechtspopulismus, weil man es schon gar nicht mehr gewohnt war, dass sich die gesellschaftliche Mitte zu Wort meldet oder gar zur Meinungsäußerung schreitet. Spätestens nach den Recherchen des Netzwerks Correctiv zu den Deportationsplänen von Rechtsextremen war allerdings auch klar: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit mehr, auch wenn es nach einem Dreivierteljahrhundert mit dem bewährten Grundgesetz so schien. Die Demokratie scheint mehr und mehr ein Verteidigungsfall zu sein..

„Die Freiheit führt das Volk“ – 1830, als das Gemälde von Eugene Delacroix entstand, war es noch eine gewaltsame Revolution. Im 20. Jahrhundert aber, schreiben Hedwig Richter und Bernd Ulrich, seien die erfolgreichsten Revolutionen durch Reformen herbeigeführt worden.
„Die Freiheit führt das Volk“ – 1830, als das Gemälde von Eugene Delacroix entstand, war es noch eine gewaltsame Revolution. Im 20. Jahrhundert aber, schreiben Hedwig Richter und Bernd Ulrich, seien die erfolgreichsten Revolutionen durch Reformen herbeigeführt worden. © ddp | United Archives

Gleich zwei neue Sachbücher stellen aber die Diagnose, dass die Menschen spätestens in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts die Politik nicht mehr so sehr als ihre Sache ansehen, sondern eher wie einen Lieferdienst, der für möglichst angenehme Lebensumstände zu sorgen hat: Marina Weisband, die einmal die kluge Seite der Piraten-Partei verkörperte, erklärt in dem Band „Die neue Schule der Demokratie“, wie diese Staats- und Gesellschaftsform mit der Online-Plattform „aula“ neues Leben eingehaucht bekommen kann – und die Geschichtsprofessorin (an der Bundeswehr-Hochschule München) Hedwig Richter plädiert mit „Zeit“-Redakteur Bernd Ulrich für eine etwas anders gelagerte Belebung der Demokratie durch eine ökologisch geleitete Revolution.

Seit der „Great Acceleration“ waren Demokratie und Konsum jahrzehntelang verschmolzen

Richter und Ulrich leiten das Verschmelzen von Demokratie und Konsum sehr plausibel aus der Ära der „Great Acceleration“ seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts her: Der Konsum wurde als Schokoladenseite der freien Welt und der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie propagiert. Und eine Wohlstandsexplosion, die erst auf massiver Kohleverfeuerung und dann auf billigem Erdöl beruhte, sprach nicht nur für eine Überlegenheit des Westens im Kalten Krieg, sondern begünstigte am Ende auch noch den Fall der Mauer: Der Warschauer Pakt wurde nicht nur zu Tode gerüstet, sondern auch zu Tode konsumiert.

Wahlen in Indien, der größten Demokratie der Welt. Auch hier ist die Staatsform in Gefahr, weil es oft an Schutz für Minderheiten mangelt.
Wahlen in Indien, der größten Demokratie der Welt. Auch hier ist die Staatsform in Gefahr, weil es oft an Schutz für Minderheiten mangelt. © Mayank Makhija/NurPhoto/Shutterstock | Mayank Makhija/NurPhoto/Shutterstock

Welche ökologischen Kosten der Konsum bedeutet, war anfangs unbekannt – aber seit 1972 mit der Club-of-Rome-Studie „Grenzen des Wachstums“ ein erster Weckruf erschien, ist immer klarer geworden, dass der exzessive Konsum dabei ist, die Lebensgrundlagen von Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt immer schneller zu zerstören. Je deutlicher dies wurde, je mehr auch die Folgen des mit Freiheit gleichgesetzten Konsums der Menschen ihnen in Form von gemachten „Naturkatastrophen“ wie Fluten und Waldbränden auf die Pelle rückten, umso mehr vermied die Umweltpolitik jede Art von Zumutungen gegenüber dem Wahlvolk: „In Deutschland reichen schon Gelbwesten im benachbarten Frankreich, damit im Kanzleramt mit dickem Radiergummi durch das Klimaschutzgesetz gefahren wird.“

Eine ökologisch angeleitete Revolution, die durch Reformen machbar wäre

Dabei wären die radikalen Veränderungen für eine Rettung unserer Lebensgrundlagen, die auch Zumutungen, Verzicht und Veränderung für die allermeisten Menschen bedeuten würden, auch in einer Demokratie möglich, davon sind Richter und Ulrich zutiefst überzeugt. Das käme einer Revolution gleich, würde aber auf dem Weg der erfolgreichsten Revolutionen am ehesten gelingen: durch Reformen, wie etwa bei der Durchsetzung der Marktwirtschaft, des Sozialstaats und der Frauenemanzipation.

Dass staatsbürgerliches Verhalten keineswegs naturwüchsig ist, dass Demokratie erlernt werden muss, mühsam ist und Disziplin, Bildung und Organisation erfordert, als „bürgerlichen Tugenden“, wissen nicht nur Richter und Ulrich. Auch Marina Weisband pocht darauf in ihrem Buch über die seit 2014 eingeführte, erprobte und ständig verbesserte Lern-Plattform für Schülerinnen und Schüler, mit deren Hilfe sie Ideen für die Gestaltung ihrer Schule vorschlagen, diskutieren, verbessern, mit den Gesetzen abgleichen und am Ende auch in die Tat umsetzen können. „Sie verwandeln sich von Konsumenten zu Gestaltern“, schreibt Weisband.

Durch Marina Weisbands Online-Plattform verwandeln sich junge Menschen aus Konsumenten zu Gestaltern

Sie lernen, dass es Mühe kostet, die eigenen Ideen durchzusetzen (und manchmal auch zu scheitern), sie lernen Widerstände auszuhalten und Kompromisse zu schließen und manchmal auch zu erkennen, dass andere verbessern können, was einem selber so einfällt. Es gibt dafür strenge Regeln, es gibt Minderheitenschutz und die Jugendlichen lernen, Komplexität auszuhalten und Probleme selber zu erkennen – etwas, was in der heutigen Schule mit ihren vorformulierten Problemstellungen nur selten vorkommt. Sie machten zudem Erfahrungen, die prägend für ihr Leben, für ihre Einstellung zu politischem Handeln. Und, so Weisband: Die Lehrkräfte seien oft überrascht, wie verantwortungsvoll die jungen Menschen agieren. „Demokratie ist kein Wunschkonzert und wer Einfluss nehmen will, muss sich ins Zeug legen“. Die beiden Bücher tun das allemal.

„Die Demokratie ist kein cooles Le-Corbusier-Haus“, halten Hedwig Richter und Bernd Ulrich fest: „Sie ist eher ein altes Schloss, das sich die Benutzerinnen und Benutzer neu eingerichtet und mit verschiedenen modernen Flügeln ergänzt haben. Vieles entstand eher zufällig, hier ragt ein hässlicher Erker hervor, da führt ein Treppenhaus ins Nichts.“