Essen. Dem Drama der kaputten Familie bohrend auf den Grund gegangen: Matthias Glasners sehr persönlicher Film stößt zu tiefen Wahrheiten vor.
Am Tag, an dem der Vater beerdigt wird, will sich die Mutter noch mal richtig mit ihrem Sohn aussprechen. Wie sonst nie. Und am Kaffeetisch kommt dann allmählich heraus, wieso. Großen Wahrheiten rutschen erst zufällig und widerwillig, dann aber gezielt heraus. Bis der Sohn es nicht mehr erträgt. Und mit der Faust auf den Kirschstreuselkuchen schlägt. Kaffeeklatsch, wörtlich. Eine intensive, 16-minütige Sequenz, virtuos gespielt von Corinna Harfouch und Lars Eidinger. Und die stärkste Szene des starken Films „Sterben“ von Matthias Glasner, der bei Verleihung des Deutschen Filmpreises kommende Woche mit neun Nominierungen der große Favorit ist.
Das Drama einer heillos kaputten Familie. Tiefe Abgründe offenbaren sich, immer neuen Wendungen und Perspektivwechsel überraschen. Anfangs ist das die Geschichte von Lissy Lunies (Harfouch), der Mutter: heillos überfordert mit ihrem dementen Mann Gert (Hans-Uwe Bauer), der immer wieder nackt ausbüxt, wo sie doch selbst todkrank ist und an Krücken geht. In ihrer Verzweiflung ruft sie ihren Sohn Tom (Eidinger) an, der ist Dirigent im fernen Berlin. Und hat keine Zeit.
„Sterben“: Lilith Stangenberg als Schwester Ellen und Ronald Zehrfeld als Zahnarzt
Wer aber nun glaubt, drei Stunden lang ein quälendes Sterbedrama zu erleben, wird bald eines Besseren erlebt. Denn „Sterben“ ist in fünf Kapitel und einen Epilog aufgeteilt, und auf „Lissy“ folgt mit „Tom“ das zweite Kapitel, das den Sohn in der Hauptstadt verfolgt. Der gerade Vater wird oder doch Ersatz-Vater. Beim Kind jener Frau, mit der er vor zehn Jahren zusammen war und die ihr damaliges gemeinsames Baby abgetrieben hat.
Just da klingelt das Telefon, diesmal erleben wir das Gespräch mit der Mutter von der anderen Seite. Jetzt kann man verstehen, warum der Sohn sie knapp vertröstet. Später wird auch seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) anrufen und den Bruder um Hilfe bitten. Aber sie würgt er unwirsch ab mit den Worten, sie solle einfach mal nicht trinken. Und dann erleben wir im dritten Kapitel „Ellen“, wie diese Frau sich selbst zerstört, wie sie immer wieder in den Vollrausch flüchtet, in fremden Hotelzimmern in fremden Ländern aufwacht, ohne zu wissen, wie sie da hingekommen ist.
Eigentlich sollten Familien genau in solchen Momenten füreinander da sein, nicht aber bei dieser Familie Lunies. Die einzige Lichtfigur war hier wohl mal der Vater. Aber der dämmert längst dahin. Alle anderen leben konsequent aneinander vorbei. Und haben keine Ahnung von den Dramen der anderen.
Matthias Glasners „Sterben“ kreist um drei Zentralfiguren, drei Orte, drei Perspektiven
„Sterben“ erzählt das als verstörendes, faszinierendes Triptychon des Seelenleids. Drei Figuren, drei Orte, drei Sichtweisen. Drei scheinbar gefühllose, beziehungsunfähige Menschen, die sich verkapselt haben und ihre Probleme verdrängen. „Nicht jeder Mensch“, sagt Tom einmal, „hat das Talent zum Glücklichsein“. Doch diese drei haben eine Hochbegabung im Unglücklichsein. Das wird in lauter Mosaikstückchen erzählt, die sich nicht für die Figuren, nur für die Zuschauer zu einem großen Gesamtbild formen.
Gestorben wird mehrfach. Denn da gibt es noch ein viertes Drama. Wenn Tom mit einem Jugendorchester eine Komposition probt, die in der Berliner Philharmonie uraufgeführt werden soll: ein Werk namens „Sterben“, von seinem besten Freund Bernard (Robert Gwisdek), der an diesem seinem Opus wie überhaupt am Leben verzweifelt. Und es auch als eigenen Schlusspunkt inszenieren will. Neubeginn und Tod ergänzen einander: Das neue Leben des (Ersatz-)Kindes geht einher mit dem Zerfall des Vaters. Bei der Komposition über das Scheiden aus der Welt erklingt ein Kinderchor. Und dann will der Komponist freiwillig sterben – am Weihnachtsabend, an dem die Geburt Jesu gefeiert wird.
Wie ein Zahnarzt bohrt Glasner bis an die Wurzeln und lässt anfangs seine Tochter sprechen
Es geht aber auch um die Liebe und deren Unmöglichkeit. Wenn Ellen, eine Zahnarzthelferin, sich in den neuen Zahnarzt ihrer Praxis (Ronald Zehrfeld) verknallt. Die Hochs und Tiefs ihrer Affäre werden stets über armen Patienten auf dem Behandlungsstuhl ausgetragen, was zu einigen schwer erträglichen Szenen führt. Auch Regisseur Glasner bohrt ganz tief, bis an die Wurzeln. Und oft über die Schmerzgrenze hinaus.
13 Jahre lang, seit „Gnade“ (2011), hat Matthias Glasner keinen Kinofilm mehr gedreht, nur für Fernsehen und Streamingportale gearbeitet. „Sterben“, seine Rückkehr auf die große Leinwand, ist nun sein persönlichster Film. Just als er Vater wurde, sind seine Eltern kurz hintereinander gestorben. Dirigent Tom ist ein Alter Ego des Regisseurs, aber wohl auch der Komponist Bernard. Und anfangs spricht ein kleines Mädchen in aller Unschuld direkt in die Kamera und sagt: „Du musst auf den Herz hören“. Es ist ein Kind des Regisseurs.
Ein sehr intimer Film also. Erst die Schauspielkunst von Lars Eidinger, Corinna Harfouch und ihrer Nebenleute erweckt das drastisch konstruierte Drehbuch, für das Glasner auf der Berlinale einen Silbernen Bären erhielt, zu echtem Leben. Und so sehr der Regisseur dabei zuweilen überzeichnet, fördert er doch tiefe Wahrheiten zutage. Man folgt dem oft irritiert, dann wieder fasziniert. Um das fremde Wesen Mitmensch zu erforschen.