Berlin. Der Sänger feiert 75. Geburtstag. Ein Interview über seine Pläne, sein Laster und alte Songs mit dem „N-Wort“, die er heute anders singen würde.

Seit fünfzig Jahren gehört der in Düsseldorf geborene Sänger, Musiker und Schauspieler Marius Müller-Westernhagenzum bundesrepublikanischen Inventar. Seine Lieder wie „Mit 18“, „Johnny W.“, „Freiheit“, „Sexy“ oder „Willenlos“ sind nicht nur Klassiker, sondern auch Gassenhauer, und bei aller Erfolgsverwöhntheit hat sich der Künstler mitunter nicht gescheut, immer wieder neue Wege zu gehen.

Am 6. Dezember wird der Mann, der in zweiter Ehe mit der Kollegin Lindiwe Suttle verheiratet ist und aus einer früheren Beziehung eine erwachsene Tochter hat, 75 Jahre alt. Und lässt sich zum Jubiläum mit der karriereumspannenden Retrospektive „Westernhagen 75 (75 Songs: 1974-2023)“ gebührend hochleben. Steffen Rüth unterhielt sich mit ihm in seiner Wahlheimatstadt Berlin.

Herr Müller-Westernhagen, werden Sie Ihren 75. Geburtstag am 6. Dezember mit einem rauschenden Fest zelebrieren?

Marius Müller-Westernhagen: Nein. Ich gehe selbst nicht gerne auf Partys und ich stehe, außer bei meiner Arbeit, nicht gerne im Mittelpunkt. Ich halte es auch für keine große Errungenschaft, wieder ein Jahr älter zu werden.

Liegen Ihnen die Freunde nicht in den Ohren, groß zu feiern?

Durchaus, aber diesen Gefallen kann ich ihnen nicht tun. Ich fahre ganz gemütlich mit meiner Frau weg, wir werden in aller Ruhe bei einem Abendessen feiern.

Wohin fahren Sie?

Ins Warme. Das genaue Ziel verrate ich nicht (lacht).

Marius Müller-Westernhagen (Mitte) in „Theo gegen den Rest der Welt“ (1980).
Marius Müller-Westernhagen (Mitte) in „Theo gegen den Rest der Welt“ (1980). © HO | 3Sat

Logisch, sonst stehen dort noch alle auf der Matte. Es wird zuhause also auch anschließend keine kleine Nachfeier geben?

Vielleicht, wenn ich 100 werde.

Das dauert ja noch.

Das meint man. Aber die Zeit rast immer schneller, je älter du wirst. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich 50 wurde, und ich habe nicht das Gefühl, dass das richtig lange her ist. Gott sei Dank fühle ich mich immer noch sehr wohl. Ich habe Glück mit den Genen und schaue auch nach mir. Ich bin bereit, permanent an mir zu arbeiten, körperlich wie geistig.

Sie denken also nicht, okay, ich werde jetzt 75, da kann ich mich mal ein bisschen zurücklehnen?

Nein. Als kreativer Mensch blicke ich viel lieber nach vorne als zurück. Die Vergangenheit ist eine große Eisentür, die du zuschließen musst. Für mich ist das Leben ein ständiger Lernprozess. Ich reflektiere die Vergangenheit nur, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen und aus Fehlern, die ich gemacht habe und die nicht mehr zu ändern sind, meine Lehren zu ziehen. Ich will so lange lernen und mich verbessern, bis ich in die Grube fahre.

Worin möchten Sie sich verbessern?

Bisher habe ich noch keinen Song oder ein ganzes Album geschrieben, bei dem ich denken würde: „Das ist der Wahnsinn. Jetzt kann ich aufhören.“ Zum Glück nicht (lacht). Deshalb bin ich nach wie vor beschäftigt und lasse nicht locker.

Für Ihre große Werkschau „Westernhagen 75 (75 Songs: 1974-2023)“ sind Sie natürlich gezwungen gewesen, ein wenig in Nostalgie und in Erinnerungen zu baden. Haben Sie sich das Gesamtwerk mal einen Abend lang gemütlich bei einem Rotwein angehört?

Nein, nein, nein. So selbstglorifizierend bin ich nicht (lacht).

Wie sind Sie denn dann zu „75 Songs“ gekommen?

Wie die Jungfrau zum Kind. Die Plattenfirma Warner Music, mit der ich über 30 Jahre lang verbandelt war und eine sehr erfolgreiche Beziehung pflegte, die irgendwann zu Ende ging, weil es neue Impulse brauchte, rief an und sagte, sie würde gerne diesen Katalog veröffentlichen, um meine, wie sie sagten, „Legacy“ zu feiern, also mein Vermächtnis. Das hat mich berührt. Eine ganze Reihe junger Menschen hat sich die Mühe gemacht, mit viel Engagement und Liebe mein Werk zu durchforsten und diese 75 Lieder auszuwählen. Ich selbst hätte mir das nicht antun wollen, denn alte Songs sind für mich halt Vergangenheit.

Marius Müller-Westernhagen bei einem Konzert im Jahr 2003.
Marius Müller-Westernhagen bei einem Konzert im Jahr 2003. © imago stock

Sind Sie mit der Auswahl zufrieden?

Ja, sehr. Zu meiner Freude hat man nicht nur die populärsten, sondern wirklich Songs von allen meinen 28 Studioalben ausgewählt. An manche konnte ich mich im Detail gar nicht mehr erinnern.

Auf Songs wie „Endspurt“ und „Wenn jemand stirbt“, die von Ihrem 1975 veröffentlichten Debütalbum „Das erste Mal“ stammen, setzen Sie sich bereits als Mittzwanziger intensiv mit dem Tod auseinander.

Mit dem Tod wurde ich sehr früh konfrontiert. Mein Vater starb, als ich 14 war, und das war ein entscheidender Einschnitt. Mit 14 ist das sehr, sehr früh. Zu der Zeit war man in dem Alter noch ein Kind.

Sind Sie durch den Tod Ihres Vaters schneller zum Mann geworden?

Ja, das musste ich. Schon als er noch lebte, war mein Vater nicht diese starke Männerfigur, die alles regelte und bestimmte. Dazu war er zu krank. So musste ich früh Verantwortung tragen und lernen, Entscheidungen zu treffen. Das hat mich geprägt. Nach wie vor ist es so, dass ich gerne anführe, vorne weg gehe und bei der Arbeit im Studio oder auf der Bühne ein Kollektiv so zu inszenieren versuche, dass am Ende alle stolz sein können.

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Was bedeutet es für Sie, eine Leitfigur zu sein und zu Lebzeiten auf dieses Vermächtnis, dieses Erbe zu blicken?

Wenn ich auf der Bühne stehe und singe oder wenn ich ein Lied schreibe, dann habe ich eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die sich das anhören. Ein Song drückt aus, was ich denke und fühle, und zu dieser Position muss ich stehen, damit ich glaubwürdig bin. Mir ist sehr wichtig, dass ich mich in allem, was ich mache, wiedererkenne.

Sie haben mit Ihrer Rolle manches Mal gehadert, konnten es gar irgendwann nicht mehr ertragen, in Stadien zu spielen. Wie sehen Sie Ihre Stellung in der Öffentlichkeit heute?

Ich halte mich nicht für etwas Besonderes, nur weil ich mal in der Zeitung stehe oder im Fernsehen auftauche. Jeder Mensch muss sich darüber im Klaren sein, dass die Zeit irgendwann über ihn hinwegzieht. Ich habe das wahnsinnige Glück, dass das bei mir schon so lange nicht der Fall ist. Aber alles ist endlich, und eigentlich ist alles auch nicht so wichtig. Vor allem du selbst nicht (lacht).

Wie ist es für Sie, wenn Kinder nach Ihnen benannt werden?

So störend (lacht). Der Name gehörte mal ausschließlich mir, und jetzt treffe ich ununterbrochen Leute, die auch Marius heißen. Interessanterweise viele Fußballprofis. Wenn ich sie frage, sagen sie immer: „Das ist wegen dir.“

Sie haben auf Ihrem jüngsten Studioalbum vor einem Jahr mit kritischem Blick den „Zeitgeist“ besungen. Was stört Sie aktuell an unserer modernen Welt?

Dass die Menschen die Langsamkeit verlernt haben. Wir alle brauchen die Momente, in denen wir Ruhe haben und nachdenken können. Doch unsere Gehirne werden immer nur vollgeballert mit Impulsen und Anweisungen durch unsere Handys. Wir kommen kaum mehr dazu, eigene Gedanken zu entwickeln.

Ich bin nicht gegen den technischen Fortschritt, aber ich finde, dass der Mensch der Meister bleiben muss und nicht zum Sklaven seiner Werkzeuge verkommen darf.

Auch die sogenannte „Cancel Culture“ unserer Zeit gefällt mir nicht. Das ist so undifferenziert und zum Teil höchst reaktionär, wenn beispielsweise in Museen Meisterwerke abgehängt werden, weil darauf eine nackte Frau zu sehen ist. Wer gibt uns das Recht? Und was ist falsch an einem nackten Frauenkörper? Das hat für mich nichts mehr mit Demokratie und freier Meinung zu tun.

Gerade Sie haben ja den Frauenkörper, ob nackt oder angezogen, immer sehr bewundert in Ihrem Schaffen.

Der Filmemacher und Videoregisseur Hannes Rossacher hat mir mal gesagt: „Marius, du bist der Erste, der auf Deutsch über Sex gesungen hat“. Das war mir gar nicht klar. Sex ist für mich etwas ganz Natürliches. Aber heute begreife ich, warum die mich damals nicht so oft im Radio gespielt haben (lacht).

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Zweimal kommt in Ihren 75 Songtexten das sogenannte „N-Wort“ vor, in „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ und, an prominenter Stelle am Anfang, in „Schweigen ist feige“.

Das würde ich heute natürlich nicht mehr schreiben, aber zur damaligen Zeit war das Wort ganz normal. Es fühlte sich auch niemand beleidigt dadurch. Und ich habe es auch in keiner Weise herabwertend gemeint, im Gegenteil. Ich halte jedoch nichts davon, Kunst im Nachhinein zu verändern, da sie in einer anderen Zeit entstanden sind. Ich finde es generell nicht fair, dass selbst große literarische Werte jetzt auf jedes Wort abgeklopft werden.

Würden Sie den Originaltext noch singen?

Nein. Ich würde singen: „Ich bin der schwärzeste Schwarze“.

Auch der Krieg, besser gesagt die Ablehnung des Krieges, zieht sich seit einem halben Jahrhundert durch Ihr Werk. Haben die Menschen einfach nichts dazugelernt?

Es erschreckt mich selbst, aber offenbar sind wir tatsächlich nicht lernfähig. Denn sonst gäbe es keine Kriege mehr. Auch hätte ich mir nicht vorstellen können, dass nach den Erfahrungen aus der Geschichte noch einmal solche Knallchargen wie Donald Trump an die Macht kommen. Er ist eine gefährliche Witzfigur, unterhaltsam für Leute, die sich nicht wirklich für Politik interessieren. Trump ist ein Gangster, der die Menschen verarscht und auf übelste Art und Weise belogen und betrogen hat. Trotzdem hält es viele nicht davon ab, ihn zu wählen. Das ist Dummheit, die schwer zu ertragen ist.

Verzweifeln Sie manchmal an der Blödheit der Menschen?

Ja. Mir wird schummerig, wenn ich merke, wie desillusioniert mich die Politik macht. Auch, weil viele Errungenschaften angefochten oder rückgängig gemacht werden, für die ich in den sechziger Jahren gekämpft habe. Das Einzige, was man machen kann, ist, bei seinen Werten und bei seinem moralischen Kompass zu bleiben. Und das Maul aufzumachen, wenn es fundiert ist.

Der junge Marius Müller-Westernhagen, hier noch mal im Spielfilm „Theo gegen den Rest der Welt“. Regie führte Peter F. Bringmann.
Der junge Marius Müller-Westernhagen, hier noch mal im Spielfilm „Theo gegen den Rest der Welt“. Regie führte Peter F. Bringmann. © picture alliance / Picture Alliance | PA

Künstlerinnen und Künstler werden aktuell von einigen kritisiert, weil sie zur Eskalation im Nahostkonflikt schweigen, speziell, weil sie keine klare Position für Israel einnehmen.

Das Feuer lodert dort momentan so hoch, dass niemand noch Öl hineingießen sollte. Ich glaube, die große Mehrheit der Palästinenser und die große Mehrheit der Israelis möchte friedlich miteinander leben, genug zu essen und zu trinken und ein Dach überm Kopf haben. Aber es gibt einige, wenige Akteure, die noch mehr Chaos wollen, weil es für sie nützlich ist, und die deshalb die Gräben noch tiefer schaufeln.

Diesen Konflikt gibt es seit ewigen Zeiten, und ich denke, man muss ihn differenziert sehen. Die israelische Regierung ist nicht gleichzusetzen mit den Juden, und die Hamas ist nicht gleichzusetzen mit den Palästinensern. Ich kann da keine Partei ergreifen für die eine oder die andere Seite. Wenn du das tust, dann wählst du Gewalt. Man möchte sagen: Holt tief Luft, seht euch in die Augen und erarbeitet einen Kompromiss.

Vor einem Jahr haben Sie die Frage, ob Sie Angst vor einem erneuten Weltkrieg haben, verneint. Bleiben Sie dabei?

Meine Zuversicht in diesem Punkt hat etwas gelitten. Auch weil der Westen immer wieder nach demselben Muster agiert: Erst verschlafen und ignorieren wir die Dinge, dann brennt es plötzlich lichterloh. Auch der Krieg in der Ukraine, an den wir uns naiverweise gerade zu gewöhnen scheinen, wird nicht beendet werden, ohne dass die Ukraine Kompromisse macht und ohne dass Russland Kompromisse macht. Es will halt keiner sein Gesicht verlieren, und deshalb sterben weiter jeden Tag Menschen.

Marius, haben Sie eigentlich ein Laster?

Ich bin ein Newsjunkie. Ich will permanent total informiert sein. Aber wenn ich in einem Restaurant bin, dann bleibt mein Handy zuhause. Ständig auf den Bildschirm zu gucken, das ist eine Abhängigkeit wie Alkoholismus oder Heroinsucht. Ich möchte von nichts abhängig sein.

Wollen Sie geliebt werden?

Das will jeder. In meinem Fall: nicht um jeden Preis.

Ich frage, weil Sie im kommenden Jahr wieder große Konzerte spielst. Die Berliner Waldbühne kommt einem Stadion ja schon recht nahe.

Ich spiele dort, weil dieser Ort von seiner Energie her einzigartig ist. Da kann nichts schiefgehen. Genau wie im Circus Krone in München, den ich mit den ersten Tourneen der Beatles und der Rolling Stones verbinde. Dieser Bühnenboden hat eine besondere Bedeutung für mich.

Hatten Sie einfach wieder Lust, auf Tournee zu gehen?

Total. Die letzte Tour zum Album „Das Pfefferminz-Experiment“ mussten wir wegen der Pandemie absagen. Jetzt will ich endlich wieder auf die Bühne, so lange ich noch kann und so lange mir das Spaß macht.

75 ist ja auch kein Alter mehr.

Stimmt, Rod Stewart kommt auch nochmal, Udo Lindenberg ist weiter aktiv, und Mick Jagger, es ist echt erstaunlich, was der Mann physisch leistet. Ich möchte allerdings nicht erleben, dass die Leute mich sehen und Mitleid mit mir haben. Mein Umfeld soll mir sagen, wenn es genug ist.

„Ich bin eins mit mir“, singen Sie im Stück „Eins“. Sind Sie das?

Ich versuche es zu sein.

Was empfinden Sie in diesen Momenten, Glück?

Zufriedenheit.