Essen. „Der Vorweiner“ von Bov Bjerg malt die Zukunft Europas schwarzhumorig aus. Eine Klima-Dystopie als Gesellschaftssatire – kann das gut gehen?
Eine Wetterscheide teilt Europa in zwei Teile. Auf der einen regnet es ununterbrochen, auf der anderen scheint immer die Sonne. Das Gletschereis ist geschmolzen, der Meeresspiegel so weit angestiegen, dass die Niederlande nicht mehr sind; das sogenannte „Resteuropa“ hat sich auf einen stetig in die Höhe wachsenden Betonsockel gerettet und schirmt sich dort mit Gewalt gegen Klimaflüchtlinge aus den Nachbarstaaten ab.
Bov Bjerg wagt sich mit seinem neuen Roman auf ungewohntes Terrain. Nach dem großen Erfolg von „Auerhaus“ (2015) und zuletzt „Serpentinen“ (2020), worin der Autor eine Vater-Sohn-Geschichte erzählte, legt Bjerg mit seinem neuen Roman nun eine Dystopie vor. In Zeiten der Klimakrise hat das Genre der schwarz ausgemalten Zukunftsszenarien gerade wieder Konjunktur. Was düster und ernst klingt, wird in der „Climate Fiction“, kurz „Cli-Fi“ auch gern genau so erzählt. Ganz anders bei Bov Bjerg, der ein ganzes Feuerwerk von Kalauern abfackelt.
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Bov Bjergs „Vorweiner“ heizen auf „Zerstreuungsfeiern“ ein
Ziemlich schnell wird klar: Ein wahrscheinliches, auch nur mögliches Szenario wird hier nicht ausgefaltet. Bjergs ambitioniertes Unterfangen ist die Kreuzung von Satire und Dystopie. So werden die kahlen Bergspitzen der Alpen mit weißer Latexfarbe übermalt, in Österreich regiert die „Österreichische Partei Österreichs“, die Schweiz wird von „Goldfäule“ in den Ruin getrieben...
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Und die „Resteuropäer“ engagieren eben gern die titelgebenden „Vorweiner“, die auf Beerdigungen – die im Roman: „Zerstreuungsfeiern“ heißen und online gestreamt werden – sozusagen die Einheizer spielen: aus Ermangelung echter, unbezahlter Trauernder. „Man soll Trauer und Privates immer auseinander halten.“
Bjergs Protagonistinnen sind die reiche Anna und deren Tochter Berta, die als „Klickbeuterin“ (resteuropäisch für: „Journalistin“) arbeitet. An deren Seite besucht der Leser die „Niederschicht“, bei der Anna für körperliche Arbeit bezahlt (wohl, weil es sie nicht mehr gibt), den Auftritt eines Comedians, über den das Publikum wegen modisch operativ versteifter Oberlippe nicht lachen kann und stattdessen Schilder hochhält („HAHA!“) oder ein bizarres Wiedergeburtsritual, beim dem ein geschlachtetes Schwein eine Rolle spielt. Dort fließt dann: „Das saublöde Blut.“ Als reiche das nicht, sagt einer dann noch: „Kein Schwein will heute noch Blutwurst essen.“
Vielleicht ist „Der Vorweiner“ eher was zum Vorlesen
Gags, Gags, Gags. Womit wir bei einem der Hauptprobleme dieses Romans wären. Aber gut, wer etwa beim Satiremagazin „Titanic“ auf seine Kosten kommt, kann den Flachwitzen Bjergs, der immerhin ein Jahr beim „Eulenspiegel“ Redakteur war, vielleicht etwas abgewinnen. Dass in der grotesken Überzeichnung der fabulierten Zukunft die Züge unserer Gegenwart kenntlich werden (HAHA!-Schilder an Stelle LOL-sagender Teenager etwa), hätte das Erfolgsrezept dieser prall mit Ideen gefüllten, brachialen Dystopie sein können – wäre die transportierte Gesellschaftskritik nicht so ganz und gar durchsichtig. Die Liebesbeziehungen: verdinglicht, die Subjekte: entfremdet, die Politik im Angesicht der Katastrophe: hilflos.
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Die Fiktion der buchstäblich „letzten Generation“ gestaltet Bjerg kurzweilig wie eine Netflix-Serie, episodenweise mit wechselnden Heldinnen. Entsprechend die Dichte der Pointen. Gut möglich, dass der lesebühnenerfahrene Autor vor Publikum die Lacher auf seiner Seite haben wird; vielleicht soll das alles aber auch gar nicht lustig sein: Dann hätte Bov Bjerg sein Ziel erreicht.