Hagen. Swifties suchen in ihren Songs nach Shakespeare-Zitaten, Universitäten bieten Seminare an: Das steckt hinter The Albatross & Co
Popsängerin Taylor Swift soll mit der US-amerikanischen Dichterin Emily Dickinson verwandt sein. Diese Erkenntnis von US-Ahnenforschern bestätigt den besonderen Zauber, den der Superstar um seine Lieder webt. Swifts Anhänger, die Swifties, praktizieren nicht Sex and Drugs and Rock’n’Roll, sondern schlagen bei Shakespeare, Poe und Coleridge nach, um das Werk ihres Idols zu entschlüsseln. Swifties sind mit Sicherheit die belesensten Musikfans in der Szene. Wie kommt das - und geben die Texte solche Literaturbegeisterung überhaupt her?
Emily Dickinson (1830 – 1886) dichtete aus dem Gefängnis ihrer Einsamkeit heraus wunderschöne Zeilen, teils über Sachverhalte, die sie selber nie erleben durfte. Ihr bekanntestes Gedicht in Deutschland handelt von der Hoffnung: „Hoffnung ist das Ding mit Federn, das in der Seele hockt und Lieder ohne Worte singt und niemals aufhört, niemals.“ Die Seele wird mit einer Vogelstange verglichen.
Taylor Swift schafft es in ihren besten Texten ebenfalls, in wenigen Zeilen Welten zu erschaffen und wieder zu zerstören. Dabei spielt sie mit Zitaten und Verweisen auf große Weltliteratur. Und ihre Fans tauschen sich im Internet darüber aus, wie diese Anspielungen zu enträtseln seien.
The Albatross mit Romeo und Julia
Dabei sind die Themen der Songs klassisch und aus der Ich-Perspektive erzählt, Liebe, verschmähte Liebe, Verlassen werden. Was sie außergewöhnlich macht, sind die Perspektivbrechungen. Swift wechselt mindestens einmal pro Song die Erzählperspektive, meistens in der sogenannten Bridge, dem Abschnitt vor dem letzten Refrain. Dadurch wird das vorher Gesagte verfremdet und auf eine neue Ebene gehoben. Man kann die Lieder biographisch deuten, in sogenannten „Easter Eggs“ versteckt Swift selbst Zahlen und Begriffe, die sich symbolisch interpretieren lassen. Es gibt queere Lesarten. Aber vor allem verwandelt Swift den weiblichen Schmerz, die Erfahrungen des auf die Weibchenrolle reduziert und Verlassen werdens, in feministische Selbstermächtigungen.
Auf einer weiteren Erzählebene spielt sie raffiniert mit den Klischees des Ruhms, die ihr selbst durch die Medien angeheftet werden wie etwa aggressive Sexualität. Die überberühmte Frau empfindet sich in „Anti-Hero“ als Monster auf dem Hügel, „keine, mit der man abhängt. / Ganz langsam taumele ich auf deine Lieblingsstadt zu,/ das Herz durchstochen, aber nicht getötet.“
In „Blank Space“, ihrem meistgehörten Song, überdreht sie mediale Vorwürfe ins Groteske, sie hätte nur deshalb so viele Liebhaber, um an Stoff für neue Songs zu kommen: „Ich hab eine lange Liste mit Ex-Freunden/ Die dir sagen werden, ich bin verrückt/ Denn, weißt du, ich liebe die Spieler/ Und du liebst das Spiel.“
Bob Dylan verwendet dieselbe Technik
„The Albatross“ von Swifts neuem Album „The Tortured Poets Department” greift dieses Thema erneut auf. Die Ich-Erzählerin wird mit dem Geraune alter Männer konfrontiert, die ihren neuen Freund vor ihr warnen, sie sei ein Albatros, sie bringe Unglück. Das ist eine Anspielung auf die bekannte Ballade „The Rime oft the Ancient Mariner“ des britischen Dichters Samuel Taylor Coleridge, eines der bekanntesten und einflussreichsten Gedichte der englischen Romantik. Darin geht es um einen alten Seemann, der seinem Schiff Fluch und Verderben bringt, weil er einen Albatros erschießt. Im Text gibt es weiterhin eine Anspielung auf „Romeo und Julia“ von William Shakespeare: „Eine Rose mit einem anderen Namen ist ein Skandal“, zetern die alten Männer. Die Zeile verweist auf Julia, die sagt: „Was ist ein Name? Das Ding, das wir eine Rose nennen, würde unter jedem andern Namen eben so lieblich riechen.“ Für die alten Männer ist die verbotene Liebesgeschichte ein Skandal, für Romeo und Julia das höchste Glück. So entlarvt Taylor Swift die Erzählung als „fake news“ (Wise men once read fake news /And they believed it) und dreht sie um: „Ich bin der Albatros / Ich schwebe zur Rettung herbei / Der Teufel, den du kennst / Sieht jetzt eher wie ein Engel aus.“
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Taylor Swifts Songtexte sind Thema in Literaturseminaren an vielen Universitäten, nicht nur in den USA. Die Analyse ihrer Texte kann als Türöffner in die Welt der Lyrik dienen. Der Bamberger Medienforscher Jörn Glasenapp gilt als deutscher Taylor-Swift-Professor; Studierende können sein Seminar „Taylor Swift und das Taylorverse. Pop, Theorien und Verschwörungstheorien“ belegen.
Auch der Buchhandel freut sich über Taylor Swift, nicht nur, weil die Publikationen über die Sängerin, die Musiknoten ihrer Alben und die Armbänder-Bastelsets reißenden Absatz finden. Zumindest die weiblichen Swifties lesen zudem gerne, und zwar sogenannte New Adult Romane, also Bücher über das Erwachsenwerden mit erstem Job, erster eigener Wohnung und den Irrungen und Wirrungen der Liebe. Taylor Swifts Texte inspirieren eine Reihe von Autoren zu Romanen. Der Filialist Thalia stellt entsprechend auf einer eigenen Internet-Seite passende Lektüre-Empfehlungen zu jedem einzelnen Album von Swift vor. Überwiegend handelt es sich dabei um englischsprachige Romane, denn auch das ist neu: Taylor Swift befeuert in Deutschland eine Renaissance des Lesens in Englisch.
Der leidende Poet ist ein beliebtes Topos in der Literaturrezeption. Dahinter steht die Idee, dass der Dichter die Gefühlsqualen, die er in seinem Werk verdichtet, selbst erlebt haben muss, ja, dass diese Qualen sogar der Antrieb für sein Schaffen sind. Entsprechend nennt Taylor Swift ihr jüngstes Album „The Tortured Poets Department“. Wieder ist der Titel anspielungsreich: Eifrige Detektiv-Swifties vermuten Hinweise auf Exfreund Joe Alwin, der in einer Whats App Gruppe namens The Tortured Man Club sein soll. Interessanter als solche Spekulationen ist jedoch die Koppelung der Begriffe Tortured Poet und Department. Swift gibt der Dichterhölle den überaus bürokratischen Terminus „Abteilung“ bei. Abteilungen gibt es in Behörden und in Museen, Einrichtungen also, die (tote) Dinge verwalten. Die Leiden werden damit zur Vergangenheit, sie werden in einem imaginierten Museum ausgestellt.
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Interessant ist außerdem ein Blick auf das Zusammenspiel von Video und Text. „Bejeweled“ aus dem Album „Midnights“ erzählt eine moderne Aschenputtel-Geschichte im „Bridgerton“-Gewand. Der Prinz selbst hat Swift, ihrer überdrüssig, zur bösen Stiefmutter und den drei Schwestern verstoßen. Die Stiefmutter predigt vor dem Ball das hehrste Ziel eines Frauenlebens, nämlich Anträge zu sammeln. Zu jedem Antrag gibt es einen Ring. Der Ball wird diesmal als Talentwettbewerb ausgerichtet, der Siegerin winkt nicht nur die Hand des Prinzen, sondern auch der Schlüssel zu einem Schloss. Aschenputtel Taylor will es allen zeigen: „Baby love, I think I‘ve been a little too kind/ Didn‘t notice you walking all over my peace of mind / In the shoes I gave you as a present”. Die Strophe schließt mit der Zeile oder besser Drohung: „And by the way, I‘m going out tonight” (Übrigens, ich gehe heute Abend aus). Im Video sieht man, wie Aschenputtel Swift die Hand des Prinzen zurückweist, das Schloss jedoch nimmt, von dessen Türmen die Drachen aus „Game of Thrones“ ihr Feuer in die Nacht spucken.
Auch Bob Dylan schreibt intertextuell, indem er Zitate aus der Weltliteratur in seine Texte hineinwebt. Auch Dylan spricht in seinen Songs unaufhörlich über sich selbst und spiegelt damit die Seelenwelten seiner Zuhörer. Und auch Bob Dylan hat ein berühmtes Lied darüber geschrieben, dass er ein anderer ist, nicht der, für den der Ruhm, die Klatschpresse und die Fans ihn halten – das große Thema für die erst 34-jährige Taylor Swift, die als derzeit berühmteste Frau der Welt ganz anders unter dem Druck der ständigen Beobachtung durch die sozialen Medien steht als der 83-jährige Bob Dylan. Dylan ist als erster Singer-Songwriter mit dem Literaturnobelpreis geehrt worden. Taylor Swift, aus der Enkelinnengeneration, zeigt in ihren Liedern einer geschwätzigen und tiefe Gedanken verachtenden Welt, wie lustvoll der Umgang mit Lyrik sein kann.