Washington. Nach dem Anschlag auf Donald Trump steht US-Präsident Biden vor einem schwierigen Spagat. Hat er noch Chancen auf einen Wahlsieg?
„Aufs Korn nehmen”, „Ins Visier nehmen”, „Frontal angreifen” – all das wollte Joe Biden in den nächsten Wochen viel öfter, härter und unmissverständlicher tun, um den Unterschied zwischen ihm, dem demokratischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, und seinem republikanischen Herausforderer bei der Wahl im November, Vorgänger Donald Trump, noch klarer als bisher herauszuarbeiten.
So hatte es der 81-Jährige noch Ende vergangener Woche besorgten Parteispendern der Demokraten in einer Telefonkonferenz in Aussicht gestellt, die sich nach Bidens TV-Pleite im Wettstreit mit Trump nach den schwindenden Erfolgsaussichten seiner Wahlkampagne erkundigen wollten. Doch Bidens Versprechen, die Samthandschuhe gegen den Rechtspopulisten auszuziehen, ist seit dem Wochenende nahezu gegenstandslos geworden. Sätze wie „Donald Trump ist eine echte Bedrohung für unser Land” wird man voraussichtlich nicht mehr von ihm hören.
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Seit Anschlag halten sich Demokraten rhetorisch zurück
Die Schüsse eines 20-jährigen Attentäters mit einem halb automatischen Schnellfeuergewehr, der Trumps Stirn bei einer Kundgebung nur um Millimeter verfehlte, haben die Wahlkampfstrategie des Amtsinhabers radikal durchkreuzt. Seit dem Mordanschlag ist bei den Demokraten und Biden akute Beißhemmung zu spüren.
Dass sie in Donald Trumps Wahlprogramm, das unter anderem Massendeportationen von Millionen Einwanderern, Gesinnungsjustiz gegen politische Gegner und einen auf noch mehr Machtfülle für den Präsidenten zielenden Staatsumbau vorsieht, „die größte Bedrohung für die amerikanische Demokratie” sehen, können und wollen sie in der momentanen Pulverfassatmosphäre nicht mehr in der bisherigen Schärfe und Klarheit vorbringen. „Weil die Gefahr besteht, dass die Republikaner daraus den Vorwurf destillieren werden, die Demokraten riefen subtil zu Gewalt gegen Trump auf“, sagte ein demokratischer Wahlkampfstratege in Milwaukee unserer Redaktion, wo Trump am Donnerstag offiziell zum Präsidentschaftskandidaten ausgerufen werden soll.
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Schon jetzt spekuliert die politische Klasse in Washington darüber, dass die geschichtsträchtige Szene von Samstagabend in der Kleinstadt Butler den bereits vorher unter schlechten Umfragewerten leidenden Biden endgültig auf die Verliererstraße gebracht haben könnte. Es wird daran erinnert, dass Ronald Reagan 1981 nach dem Attentat auf ihn über zehn Prozent in den Umfragen zulegte. Im Moment fehlen noch aussagekräftige Meinungsbilder zur Lage nach dem Zwischenfall in Pennsylvania. Aber potenzielle Trump-Wähler, die bis zuletzt auch wegen der vielen Justizskandale und Strafverfahren skeptisch waren, würden nun „ganz sicher für den Republikaner” stimmen, sagt der bekannte Meinungsforscher Frank Luntz. Das könne im Bereich von „ein bis zwei Prozentpunkten gerade in umkämpften Bundesstaaten wie Pennsylvania, wo sich das Attentat ereignet hat, den entscheidenden Unterschied machen”.
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So stehen Trump und Biden in den Umfragen da
In Teilen der Trump-Wählerschaft werde der Ex-Präsident bereits als lebender Märtyrer gefeiert. Dass er um Haaresbreite dem Tod entrinnen konnte und nur einen Streifschuss am Ohr erlitt, sagen evangelikale Organisationen, sei der letzte Beweis dafür, „dass Gott Donald Trump beschützt”. Biden, ein strenggläubiger Katholik, werde das nicht öffentlich in Zweifel ziehen.
Joe Biden schon jetzt eine sichere Niederlage zu prophezeien, das geben die Zahlen allerdings bislang nicht her. Seine desaströse Vorstellung im TV-Wettstreit mit Trump vor drei Wochen hat in den Umfragen keine substanziellen Verschiebungen ausgelöst. Landesweit 49 Prozent (Trump) zu 48 Prozent (Biden) bei Fox News. 45 Prozent (Trump) zu 43 Prozent (Biden) bei NBC – der seit Monaten geltende Grundcharakter eines Kopf-an-Kopf-Rennens, wo Abstände im Bereich der Irrtumsmarge liegen, bleibt vorläufig erhalten. Das ist bei genauer Betrachtung der sieben wahrscheinlich wahlentscheidenden Bundesstaaten (Nevada, Arizona, Georgia, North Carolina, Michigan, Wisconsin und Pennsylvania) nicht viel anders. Gewiss, Trump führt meist. Aber Biden ist längst nicht aussichtslos abgeschlagen.
Warum jetzt jedes Wort der Demokraten auf Goldwaage gelegt wird
Für den Präsidenten und sein Team bedeutet der Anschlag auf seinen Widersacher im laufenden Regierungsgeschäft plus Wahlkampf eine enorme Erschwernis. Trump von A bis Z noch intensiver in der Sache zu attackieren und dessen wirtschafts- und außenpolitische Konzepte zu verdammen, erscheint nicht mehr opportun. Jedes Wort des Demokraten gegen den Republikaner wird ab sofort auf die Goldwaage gelegt und darauf taxiert, ob sich daraus ein versteckter Gewaltaufruf lesen lassen könnte.
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Seit Samstagabend ist Biden in mittlerweile drei Formaten als Trostspender aufgetreten, der das Land in einer Ausnahmesituation beruhigen und aufrichten will. Seine Rede zur Lage der Nation am Sonntagabend, gehalten im Oval Office, zielte darauf ab, den Gewaltakt von Pennsylvania unmissverständlich zu verurteilen und für eine Deeskalation im politischen Wettstreit zu werben. „Politik darf niemals ein Schlachtfeld sein”, erklärte Biden. Er rief alle Beteiligten, also auch sich und seine eigene Partei, dazu auf, einen Schritt zurückzutreten und der Spirale von Hass und Verachtung zu entkommen, die in den vergangenen Jahren das nationale Selbstgespräch geprägt hat.
Dabei blieb sich Biden selbst in der vielleicht brenzligsten Situation seiner Präsidentschaft unfreiwillig treu – und lieferte einen peinlichen Versprecher ab. In der zentralen Passage seiner vom Teleprompter abgelesenen Rede ging es darum, die Grenzen der politischen Auseinandersetzung zu markieren. Biden wollte bekräftigen, dass Amerikaner an der „ballot box” (Wahlurne) ihre Meinung kundtun. Und nicht mit „bullets” (Gewehrkugeln). Er sagte aber stattdessen zweimal „battle box”. Battle – zu Deutsch: Schlacht. Auffällig: Demokraten haben sich darüber bisher nicht mokiert.
Biden – der „Vater der Nation“?
Überhaupt: Mit den Schüssen auf Trump ist das Grundrauschen in der demokratischen Partei, wo viele den 81-Jährigen aus Altersgründen nach seinem missratenen TV-Duell mit Trump hartnäckig zur Aufgabe seiner Kandidatur bewegen wollen, schlagartig verstummt. In nationalen Krisen wie diesen versammelt man sich hinter seinem Präsidenten.
Bidens „gefühlvoll-empathische” Ansprachen seit Samstagabend, die persönliche Kontaktaufnahme zu Donald Trump und sein uneingeschränktes Verurteilen jedweder politisch motivierter Gewalt, so Analysten der Denkfabrik Brookings in Washington, zeigten Biden als „Vater der Nation”, der die Wellen glätten und eine weitere Eskalation verhindern könne. „In so einer Ausnahmesituation”, so sagen selbst Biden-kritische Abgeordnete, „wird es in den nächsten Wochen wohl niemand mehr wagen, gegen Joe Biden zu agitieren.”
Das ändert nichts an der gefühlten Niederlage. Wettbüros wie predictit.org sehen die Wahrscheinlichkeit eines Trump-Sieges inzwischen bei fast 70 Prozent. Biden ist seit dem TV-Duell-Flop von 50 auf unter 30 Prozent abgestürzt. Der texanische Gouverneur Greg Abbott, ein Republikaner, sagt es kurz und schmerzlos: „Trump ist unbezwingbar.”
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