Hamburg. Immer mehr Experten fürchten die Deindustrialisierung – Panikmache oder Fakt? Der Blick nach Baden-Württemberg sollte alarmieren.
Es ist 20 Jahre her, da war Deutschland der kranke Mann Europas: die Wirtschaftsdaten erbärmlich, das Wachstum schwächlich, die Stimmung grässlich. Die Angst ging um vor der Deindustrialisierung, vor gesellschaftlichen Erschütterungen, vor dem Abstieg eines Superstars. Es kam – nicht zuletzt dank der mutigen Reformen von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) – anders. Inzwischen ist die deutsche Krankheit zurück, zum einen durch eigenes Versagen, zum anderen durch weltpolitische Entwicklungen. Deutschland wächst schwächer als seine Nachbarn, die Deindustrialisierung ist nicht nur ein an die Wand gemalter Teufel, sondern längst ein Mephisto in Aktion.
Für das laufende Jahr erwarten die Wirtschaftsweisen ein kümmerliches Plus von 0,2 Prozent, 2024 dürften es magere 1,3 Prozent sein, vorausgesetzt, dass nichts dazwischenkommt. In fast allen anderen OECD-Staaten ist das Wachstum stärker. Doch die Konjunktur schwächelt schon seit Jahren. Inzwischen ist die Bundesrepublik, bezogen auf die Wirtschaftsleistung pro Kopf, auf den achten Rang in der EU zurückgefallen – hinter Luxemburg, Irland, Dänemark, den Niederlanden, Schweden, Österreich und Belgien. Doch in vielen Köpfen ist diese neue Krise noch nicht angekommen. Wo kaum Industrie zu finden ist, wie etwa in der Hauptstadt Berlin, dauert das Erkennen der Wirklichkeit etwas länger. Im Ländle ist man da weiter: Baden-Württemberg, die Heimat der Techniker, Tüftler und versteckten Weltmarktführer, steckt in der Krise.
Oettinger schlägt Alarm
Der frühere Ministerpräsident und EU-Kommissar Günther Oettinger hat in der „Stuttgarter Nachrichten“ Alarm geschlagen und die schleichende Deindustrialisierung Deutschlands „als Krankheit ohne Schmerzen“ bezeichnet. Längst schrumpft unser Wohlstand. „Ich sehe mit Sorge, wie Deutschland vor sich hindämmert“, sagt Oettinger nun im Gespräch mit dem Abendblatt. „Die Investoren machen inzwischen einen Bogen um unser Land.“ Der langjährige EU-Kommissar sieht mehrere Probleme. „Alle drei Säulen des deutschen Geschäftsmodells wanken. Wir haben uns auf billiges Gas aus Russland verlassen, bei der Sicherheit auf die USA und im Handel auf China.“
Spätestens seit dem Angriff Putins auf die Ukraine ist dieses Modell hinfällig. Besonders hart trifft es die deutsche Industrie, die mit rund 20 Prozent einen viel höheren Anteil an der Wirtschaftsleistung hat als die Industrie in anderen europäischen Staaten. Die dramatisch gestiegenen Energiepreise und der erschwerte Zugang zum Gas, zugleich ein wichtiger Rohstoff der Chemieindustrie, macht viele Produktionsanlagen in Deutschland unrentabel. Der Chemiekonzern BASF hat seine Ammoniakproduktionsanlage in Ludwigshafen bereits heruntergefahren. Das Unternehmen hatte zwar ein Drittel Gas gespart, trotzdem aber Mehrkosten für Erdgas von 1,4 Milliarden Euro verbucht. Andere Großunternehmen machen es der BASF nach. Bayer konzentriert sich auf die USA und China, selbst Biontech siedelt die Krebsforschung in Großbritannien an. Die kleinen Unternehmen sterben hingegen leise.
Auch der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer aus Tübingen schlägt die Alarmglocke: „Die Deindustrialisierung unseres Landes ist in vollem Gange“, schreibt er bei Facebook. „Gerade erreicht mich die Nachricht, dass ein Tübinger Unternehmen in Kurzarbeit gehen wird, weil es wegen des drastischen Anstiegs der Energie- und Lohnkosten nicht mehr konkurrenzfähig ist und wichtige Aufträge verliert.“ Weiter sagt er: „Ich bin von Natur aus eher ein Mensch, der Probleme lieber löst, als zu lamentieren. Die Tatenlosigkeit, mit der wir dem Absturz unseres Landes zusehen oder ihn gar beschleunigen, empfinde ich aber mittlerweile als beängstigend.“ Worte, für die er bei den Grünen ein Alleinstellungsmerkmal genießt.
„Stahlwerke sind kaum noch wettbewerbsfähig“
Eine rasche Besserung ist nicht in Sicht: Die günstigen Energiepreise werden wahrscheinlich nie wieder kommen. Oettinger warnt: „Ob Aluminiumherstellung, Stahlwerke oder Kupferhütten, sie alle sind bei diesen Energiepreisen kaum noch wettbewerbsfähig.“ Das werde auch Hamburg treffen, sagt er. Noch dramatischer sei die Lage in seinem Heimatländle. „Die Industrie folgt der Energie – Baden-Württemberg ist weit weg von den LNG-Terminals.“ Und der unsinnige Ausstieg aus der Atomkraft treffe die Wirtschaft dort ungleich stärker. Ökonomen stützen die schwarz-grünen Warnungen.
„Wir stehen vor der größten Krise seit Gründung der Bundesrepublik“, sagt Folker Hellmeyer, langjähriger Chefvolkswirt der Bremer Landesbank und heute Chefvolkswirt der Hamburger Netfonds AG. „Energie war, ist und wird auch in Zukunft Grundlage für unseren Wohlstand sein“, sagt er. „Das gilt im Besonderen für Deutschland als energieintensivsten Standort der westlichen Welt.“ Durch politische Fehlentscheidungen in der Merkel-Ära habe die Versorgungssicherheit gelitten, während die Preise gestiegen seien. Nun verschärft sich das Problem durch den Krieg. Mit dem 200-Milliarden-Euro-Programm habe die Bundesregierung bis Mitte 2024 Zeit gekauft, die Probleme aber blieben.
Deutschland kauft am Ende doch in Russland ein
„Das Bewusstsein für die Krise ist noch nicht ausreichend in den Köpfen angekommen“, sagt Hellmeyer. „Der Chef der Internationalen Energieagentur hat betont, dass die Weltwirtschaft auf die fossilen Energieträger aus Russland angewiesen ist. Das gilt gerade auch für uns.“ Offiziell verzichte Europa zwar aus guten Gründen auf Importe, faktisch aber importiere es die Stoffe teilweise umetikettiert aus Drittstaaten wie Indien, China oder Saudi-Arabien. Damit kauft Deutschland am Ende doch russische Rohstoffe – und macht noch die Zwischenhändler und Konkurrenten am Weltmarkt reich.
Hellmeyer will die Krise nicht allein auf den Krieg schieben. Er sieht weitere Belastungen für den Standort. „Im Steuerwettbewerb fällt die Bundesrepublik weiter zurück – wir sind heute eines der drei teuersten Länder.“ Auch in der Bildungspolitik verliere Deutschland an Boden. „Selbst Vietnam hat uns in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern inzwischen abgehängt.“ Mangelhaft sei die digitale und inzwischen auch die klassische Infrastruktur. Über Jahrzehnte habe die Bundesrepublik zu wenig in Straßen, Schienen und Schulen investiert. „Der Vorteil guter Infrastruktur verkehrt sich in sein Gegenteil“, sagt auch Palmer. „Die Bürokratie im Land wuchert ständig weiter. Die Digitalisierung der Verwaltung kommt allenfalls im Schneckentempo voran.“
Das alles macht Deutschland zu einem Standort, der Attraktivität verliert. „Im Vergleich auf internationaler Ebene haben sich die Voraussetzungen verschlechtert. Alle Einkommen des Staates und der Haushalte kommen aus der Wirtschaft – damit gerät mittelfristig auch die Finanzierung des Sozialstaates in Gefahr“, warnt Hellmeyer. Er wird grundsätzlich: „Ist Deutschland ein Standort, der Leistungsträger ermutigt, oder eher ein Land, das Anspruchsdenken befördert?“ Eine der großen Stärken der Bundesrepublik war in den vergangenen Jahrzehnten die gute Ausbildung und der Fleiß seiner Arbeitnehmer. Damit ist es offenbar nicht mehr weit her. Eine Mehrheit der jungen Mitarbeiter wünscht sich inzwischen eine Vier-Tage-Woche, nicht einmal die Hälfte beabsichtigt, in einem Jahr noch bei der derzeitigen Firma zu arbeiten, ergab eine Gallup-Umfrage. 18 Prozent der Beschäftigten haben schon innerlich gekündigt.
Work-Life-Balance geht gegen Wirtschaftswachstum
Zugleich wachsen die Ansprüche an die Arbeitgeber, eine gefällige „Work-Life-Balance“ zu schaffen. Vermutlich würden wir heutzutage noch über Trümmergrundstücke wandern, wenn im Wirtschaftswunder schon die Work-Life-Balance erfunden worden wäre. Nun ist die neue Arbeitsmoral keine deutsche Idee – überall in der westlichen Welt rätselt man seit Ausbruch der Pandemie über die „Great Resignation“. Aus verschiedenen Gründen kündigen die Menschen ihren Job, manchmal ist es die Unzufriedenheit mit der Arbeit, manchmal ein sehr grundsätzliches Nachdenken über das Leben. Besonders betroffen sind die Branchen Gastgewerbe, Gesundheits- und Bildungswesen. In den USA kündigen monatlich rund drei Prozent der Beschäftigen, das ist fast ein Prozentpunkt mehr als der langjährige Durchschnittswert.
In Deutschland aber wirkt sich die sinkende Arbeitsmoral stärker aus – wegen der demografischen Entwicklung sind die Jahrgänge der Berufseinsteiger bald nur noch halb so groß wie die Jahrgänge der Neurentner. Angesichts dieses Defizits muss sich kaum ein junger Mensch Sorgen um seine Arbeit machen – ein wunderbarer Gewinn für jeden Einzelnen, ein volkswirtschaftlicher Verlust, wenn Wettbewerb und Leistung kaum noch eine Rolle spielen. „Jahr für Jahr gehen 300.000 Menschen mehr in Rente als aus den Schulen und Hochschulen in den Arbeitsmarkt eintreten“, meint Palmer. „Trotzdem setzt sich in der Generation Z die Auffassung durch, eine Viertagewoche sei auch genug, und Unternehmen müssten Wellnessangebote für die Work-Life-Balance machen.“ Palmer weiter: „Bill Clinton wusste noch, worauf es ankommt: „It’s the economy, stupid.“ Wer übernimmt heute die Aufgabe, den Deutschen zu sagen, was die Stunde geschlagen hat?“
„Die internationale Ordnungwird gerade eingerissen“
Das zurückliegende Jahrzehnt mit seinem kleinen Wirtschaftswunder hat die Deutschen verwöhnt, sie sind satt geworden. Doch es sind nicht nur eigene Fehler, sondern auch internationale Entwicklungen, die unser Wohlstandsmodell unter Stress setzen. Die Phase der Öffnung, der Globalisierung, neigt sich dem Ende zu. „Erschwerend kommt hinzu, dass die internationale Ordnung gerade eingerissen wird“, sagt Hellmeyer. „Als Exportnation sind wir auf funktionierende Regeln im Welthandel angewiesen. Stattdessen werden die Eigeninteressen stärker, wie das Milliardensubventionsprogramm IRA von Joe Biden in den USA zeigt.“ 72 Prozent der Unternehmen der deutsch-amerikanischen Handelskammer wollen ihre Investitionen in den USA nun erhöhen – auf Kosten Europas. „Dieser Aderlass ist brandgefährlich“, warnt Hellmeyer. Die EU sei in der Pflicht, Antworten zu finden. „Wir sind noch immer ein starker und unverzichtbarer Partner in den Lieferketten.“
Hart geht auch der CDU-Politiker Oettinger mit der Politik ins Gericht. „Diese Krise ist in der Politik noch nicht ausreichend angekommen. Wir debattieren über Umverteilung, wir halten an der Rente mit 63 fest, dabei benötigen wir dringend eine Reform-Agenda 2030.“ Ausdrücklich lobt er Gerhard Schröder für dessen Agenda 2010. „Den Vorsprung aber haben wir in den vergangenen 18 Jahren verspielt“ – ein Seitenhieb auch auf die Versäumnisse der CDU-Kanzlerin Angela Merkel. Nun fordert der gebürtige Stuttgarter die EU zum Handeln auf: „In Brüssel wird zu wenig Industriepolitik gemacht und der Fokus zu stark auf Verbraucherfragen gelegt. Wir müssen uns wieder stärker auf unsere Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren.“
Oettinger wird direkt: „Geht um Arbeitsplätze“
Oettinger hofft, dass die Debatte in Gang kommt und sich die Gewerkschaften lauter als bisher einmischen. „Es geht um Arbeitsplätze.“ In Berlin scheint das noch nicht überall angekommen, sagt der CDU-Politiker. „Ich denke, dass Scholz die Lage durchschaut. Das Problem sehe ich eher im Wirtschaftsministerium, das sich leider als reines Klimaschutz- und Transformationsministerium versteht.“
Ob wie vor 20 Jahren eine tiefgreifende Reform gelingt? Oettinger ist sich nicht sicher: „Damals hatten wir mehr als fünf Millionen Arbeitslose, es gab ein ganz anderes Problembewusstsein als heute. Heute ist dieser Druck nicht mehr da, weil Arbeitskräfte gesucht werden“, beschreibt er seine These von der Krankheit ohne Schmerzen. Der Wohlstand schwinde trotzdem, die Perspektiven trübten sich ein. Doch das Land beschäftige sich mit gesellschaftspolitischen Themen wie Gendern, Diversity oder Parität. „Früher galt Vorsprung durch Technik, heute gilt Ablenkung durch Quoten.“
Viele Aufgaben für die Zukunft
Schreibt Hellmeyer Europa schon ab? „Nein, ganz im Gegenteil: Es liegt in unserer Hand, die negativen Rahmenbedingungen zu verändern und eine große Bildungs- und Infrastrukturoffensive zu starten. Wir müssen unsere Konkurrenzfähigkeit verbessern.“ Und noch ein Punkt ist Hellmeyer wichtig: „Angesichts der Weltlage sollte Deutschland die Kunst der Diplomatie wieder entdecken.“
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Die To-do-Liste ist ellenlang, ein schwieriges Unterfangen für eine so bunte Koalition wie die Ampel. „Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise ... und dennoch drängen die Armen der Welt in unser Land“, sagte der bekannte Ökonom Hans-Werner Sinn. „Ein europäischer Nachbar nach dem anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei.
Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim Wachstum, außerstande, mit seinen Nachbarn mitzuhalten. War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder? Das muss lange her sein.“ Die perfekte Zustandsbeschreibung für die heutige Lage ist lange her. Diese Sätze sprach Hans-Werner Sinn in seiner Deutschlandrede auf Schloss Neuhardenberg. Am 15. November 2003.
Danach brachen blühende Jahre an.